Die meisten Office-Worker bewegen sich zu wenig – mit zum Teil verheerenden
Folgen. Es wird zu wenig gestanden und gelaufen. Aber auch im Sitzen
sollte man sich bewegen. Im fünften Teil unserer Reihe zum Thema Bewegtsitzen
geht es um historische Meilensteine. Von Robert Nehring.
Die Geschichte des Sitzens ist lang, auch wenn sich der Mensch diese Körperhaltung erst vergleichsweise spät zu eigen gemacht hat. Die ältesten noch erhaltenen Zeugnisse, die Menschen in der Sitzposition zeigen, sind fast 8.000 Jahre alt. Das Sitzen auf einem Stuhl war anfangs ein Privileg der Mächtigen, der Pharaonen, Päpste, Kaiser, Könige usw. Das gemeine Volk dagegen saß nicht erhöht, sondern auf dem Boden. Erst ab dem 16. Jahrhundert änderte sich dies langsam. Mit dem Humanismus der Renaissance beanspruchte auch das Bürgertum Sitzplätze. Kaufleute und Buchhalter nahmen in ihren Kontoren immer häufiger Platz. Mit der Industrialisierung ab Mitte des 18. Jahrhunderts wurden Stühle dann bald zur Massenware.
Meilensteine des Bewegtsitzens: Die ersten Bürostühle
Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden in den USA Sitzkonstruktionen, die sich als die ersten heute bekannten Bürostühle betrachten lassen, etwa der Centripetal Spring Armchair von Thomas E. Warren (1849), der Sitting Chair von Peter Ten Eyck (1853) oder der Improved Office Chair von Robert Fitts (1867). Diese Modelle verfügten bereits zum Teil über Rundumbeweglichkeit, kippbare Rückenlehnen, drehbare Sitzflächen, über Rollen und Höheneinstellbarkeit.
Für die Entwicklung in Deutschland war eine Erfindung des Orthopäden Franz Staffel von großem Einfluss. 1883 präsentierte er seinen „Kreuzlehnstuhl“, einen gewöhnlichen Holzstuhl mit einer besonderen Rückenlehne. Letztere war sehr kurz und im Bereich der Lendenwirbelsäule angebracht. Sie übte einen federnden Gegendruck aus. Dies sorgte für die damals gewünschte stets aufrechte Sitzhaltung im Hohlkreuz, fixierte den Körper allerdings auch stark in dieser Position und führte so zu einem bewegungsarmen, ungesunden Sitzen.
Der „Staffelstuhl“ fungierte hierzulande noch viele Jahrzehnte als Prototyp für Bürostühle. In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts war er zum Beispiel in Form des „Reichspost-Stuhls“ sehr erfolgreich. Hinter diesem verbirgt sich der 1922 vorgestellte Stahlrohrdrehstuhl RP-28 von Drabert. Er war der erste nach einer DIN gefertigte Bürodrehstuhl. Ab 1928 wurde er zum Standardstuhl der Deutschen Reichspost. RP-28 war drehbar, höhenverstellbar und verfügte über eine verstellbare Rückenlehne.
1926 präsentierte die Firma Stoll erstmals das Modell Federdreh mit Nereg-Mechanik auf der Leipziger Messe. Ein Bürodrehstuhl, bei dem der Sitzaufbau auf einer Feder befestigt war, sodass im Sitzen nicht nur Bewegungen nach vorn und hinten, sondern auch zur Seite möglich waren.
Ein bewegendes Sitzerlebnis bot auch der Polstergleich von Margarete Klöber (1935). Vier in den Ecken unter der Sitzfläche angebrachte Federn sorgten für Bewegungen in alle Richtungen.
Meilensteine des Bewegtsitzens: Ergonomische Büroarbeitsstühle
Mitte des 20. Jahrhunderts wurden wissenschaftlich begründete Zweifel an dem Ideal des permanent aufrechten Stillsitzens immer lauter. Ärzte und Arbeitswissenschaftler forderten mehr Bewegungsmöglichkeiten für die Sitzenden. Bald folgten entsprechende Stühle, die ein „dynamisches“, „ergonomisches“ Sitzen ermöglichen wollten.
Ein wichtiger Meilenstein auf diesem Weg war die Erfindung der Synchronmechanik durch den Designer Rainer Bohl. 1969 konstruierte er für Drabert eine verstellbare Rückenlehne, die dann Teil des 1970–74 von D-Team Design entwickelten Relax-o-flex Synchron-Bürostuhls wurde.
Zu dieser Zeit konnte sich die Ergonomie als wissenschaftliche Disziplin langsam etablieren. Ihre Botschaft: die Arbeitsmittel dem Menschen anpassen. Viele Hersteller von Bürostühlen übertrieben es aber bald mit dieser Devise. Sie schufen wahre Sitzmaschinen mit unzähligen Stützen und Stellmechanismen. Dies führte dann wiederum zur Fixierung des Sitzenden – nur diesmal in dessen individueller Komfortposition.
Einen anderen Weg gingen etwa die Designer Klaus Franck und Werner Sauer. Mit der FS-Linie für Wilkhahn (1980) entwickelten sie flexible Bürostühle mit Synchronautomatik, die sich ohne Hebel, Räder usw. an den Benutzer anpassten: Der „erste bedienungsfreie Bürostuhl mit Synchronmechanik“ wurde damals mit dem Slogan „Sitzen ohne Führerschein“ beworben.
1982 entwickelten Siegfried Pürner und Eduard Haider das Pending-System. Es gilt heute als eine der ersten 3-D-Mechaniken neueren Typs. Sein Geheimnis ist eine Drahtseilkonstruktion, die den Sitzaufbau frei pendelnd trägt. Dies ermöglicht Bewegungen in alle Richtungen. 1983 kam das auch heute noch populäre 3-D-Sitzwerk Bioswing von Haider Bioswing auf den Markt.
Ab Mitte der 80er Jahre hatte sich die Idee vom dynamischen, also bewegten, als bestem Sitzen weithin durchgesetzt, immer getreu dem Motto: „Die beste Sitzhaltung ist immer die nächste.“ In diesem Zusammenhang sorgte unter anderem der Stuhl Capisco von HÅG (1984) für Furore. Bei seiner Entwicklung ließ sich der Designer Peter Opsvik davon inspirieren, wie man auf einem Pferd sitzt. Das Ergebnis bot viel Bein- und damit Bewegungsfreiheit. Viele Bewunderer fand aber zum Beispiel auch der duo-back von Grahl (1989) mit seiner in sich flexiblen zweigeteilten Rückenlehne.
In den 90er Jahren kamen dann weitere 3-D-Sitzkonzepte auf den Markt, die ebenfalls Meilensteine für bewegtes Sitzen im Büro darstellen – etwa Schwipp (1995), Dondola von Wagner (1996) und Ergo Top von Löffler (1999).
Im Jahr 2001 erregte das Sitzkonzept Mikromotiv von Drabert Aufsehen. Das Drehstuhlkonzept, bei dem ein Motor die Sitzfläche alternierend um 0,8 Grad nach rechts und links dreht und den Sitzenden somit passiv-dynamisch zur Bewegung animiert, wurde als einziges als Medizingerät anerkannt.
Meilensteine des Bewegtsitzens: Moderne Büroarbeitsstühle
Aktuell wollen moderne Bürostühle den Sitzenden eine größtmögliche Bewegungsfreiheit ermöglichen. Die Modelle sollen dem natürlichen Bewegungsdrang des Menschen direkt nachgeben, ohne dass dieser den Halt verliert. Die Einstellmöglichkeiten werden dazu oft auf das Wesentliche beschränkt. Sogenannte 3-D-Mechaniken, die Bewegungen rundum erlauben, liegen im Trend. Ein sehr erfolgreiches Beispiel dafür ist der ON von Wilkhahn (2010) mit seiner Trimension-Mechanik. 2013 kamen unter anderem die bewegenden Stühle 3Dee von aeris, SoFi von HÅG und swing up von Sedus auf den Markt. Jüngeren Baujahrs sind zum Beispiel IN von Wilkhahn und R16 von Rovo.
Neben dem klassischen Bürodrehstuhl begegneten in den letzten Jahrzehnten auch immer wieder alternative Sitzkonzepte. Anfang der 90er Jahre etwa zog der Pezziball in viele Büros ein – bis einige von dem Gymnastikinstrument herunterfielen und viele bemerkten, dass sich nicht lange auf ihm sitzen ließ. Es folgte der Kniestuhl, der zwar für ein aufrechtes Sitzen sorgte, aber auf Kosten von Blutstaus in den Beinen. Zusätzliche Keil- und Luftkissen waren eine Zeit lang begehrt. Und zuletzt kehrten sogenannte Stehhilfen wieder recht erfolgreich zurück.
Wir dürfen gespannt sein auf die Zukunft des Sitzens im Büro. Wichtig wird bleiben, dass sich dabei stets viel bewegt wird.
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