Robert Nehring hat nicht viel von Marcel Proust gelesen, stellt aber ebenfalls gern viele Fragen. Interessanten Persönlichkeiten aus dem Büroumfeld schickt er auch mal einen Fragebogen. Diesmal antwortete der Designer Martin Ballendat.
ARBEITEN
1. Bitte beschreiben Sie Ihren Arbeitsplatz.
Mit meinem Studio im österreichischen Unterach habe ich das Glück, einen genialen, unglaublich schönen Blick über den Attersee auf das Höllengebirge und das Weißenbachtal genießen zu dürfen. Ich war fast die gesamte Shutdown-Zeit dort und arbeite in Unterach inzwischen mindestens zwei Tage in der Woche. Ein Ort, um zu erden. Fast wie eine Droge. Mein Arbeitsplatz an einem Massivholz-Ellipsentisch (Davis, USA) ist seeseitig raumhoch verglast und nur von Holzstehern gegliedert. Ich sitze auf einem Xenium-Drehstuhl und die Sitzgruppe gegenüber besteht aus Perillos von Züco, also alles eigenes Design.
2. Wie kommen Sie zur Arbeit?
In meinem Studio am Attersee kann ich ebenso übernachten und habe keine Arbeitswege. Mein zweiter Arbeitsplatz ist mein großes Engineering-Office mit circa 1.000 m2. Dort sind auch meine derzeit zwölf Mitarbeiter am Werk, im CAD-Studio oder den Werkstätten (Metall-, Holz-, Kunststoffwerkstatt oder Polsterei). Dieses Büro ist fahrradnah nur wenige Minuten von meinem Privathaus in Simbach am Inn entfernt. Wir leben hier etwas abseits in der Provinz, direkt an der österreichischen Grenze.
3. Wo arbeiten Sie am liebsten?
Eindeutig am Attersee. Wenn es darum geht, etwas zu entwerfen, ziehe ich mich immer dorthin zurück. Ich liebe den See.
4. Wann beginnt ein normaler Arbeitstag bei Ihnen, wann ist Schluss?
Mein Tag beginnt um 6 Uhr mit circa einer Stunde Sport. Bei der Einhaltung dieser Regel bin ich extrem konsequent. Schlafen gehe ich um etwa 23 Uhr. Dazwischen bin ich meist kreativ – für mich ist das keine Arbeit. Ich bin derzeit in drei Segmenten aktiv:
1) Designentwicklung mit meinem Team,
2) Bau von Immobilien nach eigenem Entwurf (hier verwirkliche ich Architektur als Bauherr) und
3) ich versuche als Stadtrat von Simbach engagiert auch politisch etwas voranzubringen.
Zwischendurch ist natürlich auch meine Familie mit den vier Kindern angesagt.
5. Wie viele E-Mails erhalten Sie im Schnitt pro Tag?
Vor Corona circa 60, jetzt sind es nur noch etwa 30, wenn ich alle Büroabwesenheitsnotizen und Spams abrechne. In meinem Office landet natürlich wesentlich mehr, aber davon habe ich mich schon vor ein paar Jahren freigestrampelt.
6. Wie viele Stunden arbeiten Sie im Schnitt pro Woche?
Als Selbstständiger habe ich keine geregelten Arbeitszeiten und zähle keine Stunden.
7. Wie sehr arbeiten Sie konzentriert allein?
Wenn ich am Attersee bin, arbeite ich immer allein. Das ist also fast die Hälfte der Woche. Ich entwickle mich dort gerade ein wenig zum Eigenbrötler, seitdem ich eine starke Nähe zur Natur lebe. Unsere Kinder haben alle schon ihr eigenes Leben und die Mitarbeiter werden immer selbstständiger mit ihren Projekten.
8. Sind Sie viel in Meetings?
In Skype-Meetings circa eine Stunde pro Tag. Andere Meetings finden im Grunde noch nicht wieder statt.
9. Wie kommunizieren Sie vorwiegend: Face-to-Face, per Telefon, E-Mail oder Chat?
Alles Genannte ist dabei, auch per Facebook und LinkedIn.
10. Wie stellen Sie sich Büros 2025 in Deutschland vor?
Zunächst glaube ich, dass es durch Corona einen unglaublichen Einbruch für die Büros gibt. Das Thema Home-Office ist Gift für das klassische Büro. In meinem kreativen Designentwicklungsbereich ist die direkte Kommunikation meines Teams untereinander und direkt am Prototypen – ganz nah am Material – unverzichtbar. Einer lernt vom anderen, Kommunikation mit Gestik und Mimik ist so unglaublich wichtig. Ich befürchte, dass das viele Betriebe ignorieren werden, so auch etliche Politiker, zum Beispiel mit der Forderung nach einem Recht auf Home-Office – was für ein Unsinn!!! Meine Hoffnung wäre, dass sich das Office mit gemütlichen Kommunikationszonen und lebenswerten Begegnungsbereichen durchsetzt.
11. Die drei größten Herausforderungen für die Bürowelt?
Zunächst geht es bei den Büromöbelmarken ums reine Überleben, also um ein vernünftiges Reduzieren und Konsolidieren. Ein Gesundschrumpfen ist unausweichlich, um die derzeitigen 25 bis 50 Prozent Umsatzminus wettzumachen. Erst wenn unsere starken Marken wieder in einem gesunden Rhythmus sind, kann man sich weiteren Herausforderungen stellen. Sicher wird eine davon die stärkere Digitalisierung sein und eine weitere die Verlagerung der Vertriebsaktivitäten ins Internet.
12. Ihre drei Lieblingslösungen von Design Ballendat?
Aktuell der Stapel- und Vielzweckstuhl Stakki für VS, sicherlich mein Klassiker Perillo für Züco und mein innovativer Fl@t Chair für Tonon.
13. Diese drei Lösungen von anderen sind auch nicht zu verachten:
Es ist schade, dass auch die Neocon Chicago dieses Jahr ausgefallen ist. Ganz sicher wären dort wieder bei Steelcase interessante Neuheiten zu sehen gewesen. In Mailand sind es Fantoni und Arper, die mich beeindrucken. Auch Actiu aus Spanien ist nicht zu unterschätzen.
14. Was macht gutes Design für Sie aus?
Wenn etwas reduziert, unaufdringlich und ästhetisch sowie gleichzeitig nützlich und praktisch ist, aber dennoch eine sinnlich emotionale Botschaft vermittelt.
15. Welche Designtrends zeichnen sich für Sie gerade ab?
Ich schaue nicht so sehr auf Trends, denn es besteht dann immer die Gefahr, dass man ihnen hinterherläuft. Wer jede Woche mit über 30 neuen Projekten zu tun hat, kann nur konzentriert in sich hineinhorchen, was jeweils die beste Lösung werden soll. Natürlich atmet jeder Mensch täglich in Multi-Momentaufnahmen Impulse ein, was genau, weiß man gar nicht. Ich hoffe, Trend ist das, was bei unserer Designerarbeit am Ende herauskommt.
16. Es gibt mittlerweile viele Designpreise – zu viele?
Wer Profi im Designbereich ist, der weiß, dass die wichtigen Wettbewerbsveranstalter Preise in mehreren Kategorien vergeben. Gold-Awards, Best of the Best oder 1. Preise – das ist die erste Kategorie. Dafür lohnt es sich zu kämpfen, und mit dieser Kategorie hat man es verdient, Werbung zu machen.
Die zweite Kategorie ist der Award selbst, also normal „awarded“. Dessen Wichtigkeit hat natürlich abgenommen, zumal immer mehr Einreicher dieses Prädikat erhalten. Diese Auszeichnung ist aber immer noch respektabel.
Als besonders krass stellt sich die dritte Kategorie dar, die heißt dann zum Beispiel „honorable mentioned“ (bei Red Dot und Focus), „special“ (bei German Design Award) und „Selection“ (beim Iconic). Das ist letztendlich nur ein Trostpreis, der bessere Teilnahmeeinnahmen für den Veranstalter ermöglicht. In meinen Augen nichts wert, vergleicht man die Anzahl dieser sogenannten Auszeichnungen mit den Awards und den Best ofs. Wer damit Werbung macht, hat es wirklich nötig. Ich erfasse diese dritte Kategorie überhaupt nicht in meiner Studiostatistik.
Langfristig tun sich die Veranstalter mit der in meinen Augen zu leichtfertigen Vergabe ihrer Signets keinen Gefallen, da damit deren Wertverlust unaufhörlich voranschreitet. Mein Studio erhielt insgesamt über 20 Preise der ersten Kategorie (also Best of/Gold etc.) und über 150 Awards. Aufgrund der Inflation der Wettbewerbe nehmen wir nur noch an den wichtigsten teil.
17. Die größten Fehler der Büroeinrichtungsbranche sind?
Ich betrachte es als ungut, dass die Firmen ihr Produktangebot so stark aneinander angleichen. Mir fehlen oftmals die Eigenständigkeit und der Mut zu mehr Innovation. Ob das jedoch ein betriebswirtschaftlicher Fehler ist, wage ich nicht zu behaupten. Offenbar lässt sich diese Mittelmäßigkeit immer noch gut verkaufen.
18. Was Sie schon immer einmal zur Entwicklung der Büroarbeit sagen wollten …
Das Büro-Interieur und die Office-Lebenswelt sollten so interessant, liebevoll, gemütlich, wohltuend, gesellig und kraftgebend sein, dass der Tätige mit Freude dort hingeht und daran teilnimmt, als wichtiger Bestandteil des sozialen Zusammenseins.
19. New Work bedeutet für mich …
… in jedem Falle ein Hinterfragen des normalen Arbeitslebens. Wenn es vielleicht gelingt, dem „Work“ das Gezwungene (ich verdiene meinen Lebensunterhalt und muss mich halt dafür lang machen) zu nehmen, hin zu einer motivierten Aktivität, um an einem gemeinsamen, produktiven Prozess teilnehmen zu dürfen.
20. Der Generation Y rate ich …
…, selbstbewusst ihren eigenen Weg zu gehen, offen für Veränderungen zu sein und sich nicht an Althergebrachtem festzuhalten.
21. Wie stehen Sie zum Thema Nachhaltigkeit?
Ohne ehrliche Nachhaltigkeit wird alles Leben auf diesem Planeten früher oder später kaputtgehen. Ich hoffe, dass die Generation Y diesem Thema mehr Aufmerksamkeit und Ernsthaftigkeit schenkt als unsere Generation.
22. Woran arbeiten Sie gerade?
Ich arbeite immer parallel an über 30 Projekten. Mein Studio beschäftigt sich aktuell zum Beispiel sehr stark mit mechanischen Stuhlkinematiken, die rein auf Kunststoffteilen und auch auf der Flexibilität von Kunststoff basieren. Das ist ein sehr heißes Thema, da diese Konfiguration die Stühle sehr leicht, reduziert, luftig und preisgünstig macht.
23. Was inspiriert Sie?
Die Natur, erotische Formen schöner Frauen, gut gemachte, tiefsinnige Filme und manchmal auch meine Verärgerung darüber, wie schlecht manche Produkte funktionieren, denn das liefert Ideen, es besser zu machen.
24. Wird die Corona-Krise die Bürowelt nachhaltig verändern und wenn ja, voraussichtlich wie?
Siehe meine Antworten auf die Fragen 10) und 11).
25. Die Büroeinrichtungsmesse Orgatec wurde für 2020 abgesagt – Ihre Meinung?
Das war unausweichlich. Es stellt sich die Frage, ob nicht künftig imm und Orgatec zusammengelegt werden könnten nach dem Vorbild Milano, denn inzwischen sind die Grenzen fließend.
26. Ihr größter beruflicher Erfolg?
Designer of the year 2019 in UK (Mixology-Award). Mein erfolgreichstes Produkt ist der Xenium mit wahrscheinlich inzwischen über 750.000 verkauften Modellen – und das in einem gehobenen Preissegment.
27. Der größte Misserfolg?
Weiß ich nicht. Ich habe eine ganze Reihe Produktflops entwickelt.
28. Xing oder LinkedIn oder …?
Beides plus Facebook.
29. Apple oder Microsoft?
Microsoft, aber auch der ganz normale Bleistift: Ich skizziere für mein Leben gern.
30. Gedruckte Zeitung oder Online-News?
Inzwischen bin auch ich Handy-süchtig und nutze leider die Online-News mehr als das Gedruckte.
LEBEN
31. Was würden Sie als „König von Deutschland“ zuerst ändern?
Schnellere Urteile und beschleunigte, vereinfachte Verfahren bei den täglichen Straftaten der vielen Einzeltäter und bei straffälligen Clans in den Großstädten.
32. Was würden Sie gern können?
Ich habe erst mit 40 Jahren angefangen, Gitarre zu spielen – und nur eine entsprechende Qualität erreicht. Ich wünschte mir, so gut zu spielen, dass ich in einer nennenswerten Band mitspielen könnte. Musik ist als Ausdrucksform eine großartige Welt.
33. Wo würden Sie am liebsten leben?
Genau dort, wo ich bin. Österreich und Bayern haben eine superschöne Landschaft.
34. Wobei können Sie gut entspannen?
Siehe meine Antwort auf Frage 1).
35. Ihr ursprünglicher Berufswunsch?
Sportlehrer, aber gut, dass ich mir das aus dem Kopf geschlagen habe.
36. Ihre Hauptcharaktereigenschaften?
Ehrgeizig, sensibel, feinsinnig, selbstzweifelnd, eitel, schnell beleidigt, elitär denkend, ehrlich, sehr direkt, multitaskingfähig, vielseitig, kreativ.
37. Ihre Hobbys oder Leidenschaften?
Mein Beruf ist gleichzeitig mein Hobby. Architektur ist dazugekommen. Zu meinen Hobbys zähle ich sicher auch meine Gitarre.
38. Ihre drei Dinge für die einsame Insel?
Ein scharfes Messer, warme Kleidung und viel Aspirin.
39. Ihr Lieblingskünstler?
Sting.
40. Ihr Lieblingsbuch?
Die Steve-Jobs-Biografie von Walter Isaacson.
41. Ihr Lieblingsgericht?
Sauerbraten von de Omma.
42. Ihre Lieblingsweisheit?
Nach dem Tod meiner Mutter habe ich ihre Biografie als Buch veröffentlicht. Ich möchte ihre Lebensweisheit (= der Buchtitel) an dieser Stelle aussprechen: Demjenigen widerfährt das Beste, der das Beste aus dem macht, was ihm widerfährt.
43. Ihr Lebensmotto?
Ich vergleiche mein Leben mit einem Film, in dem ich selbst Regie führe. Hauptdarsteller, Komparsen, Drehorte – alles kann ich selbst bestimmen. Und wenn die Dreharbeiten Freude bereiten, dann wird es ein guter Film! Das Drehbuch aber stammt nicht von mir.
44. Der Sinn des Lebens …
Das ist mir an dieser Stelle zu persönlich.
45. Söder, Scholz, Habeck oder?
Als Stadtrat bin ich Mitglied der sogenannten UNS-Fraktion, einem Zusammenschluss der Freien Wähler und der Grünen.
46. Bayern oder Dortmund oder …?
Ich bin alter Schalke-Fan. So wie schon mein Großvater und Vater.
47. Beatles oder Stones oder …?
Dann doch lieber The Cure oder Status Quo.
48. Bier oder Wein?
Jeden Abend ein Glas Rotwein, am liebsten Shiraz.
49. Strand oder Berge?
Die Berge, ich liebe die Alpen und das Salzkammergut.
50. Und Ihre Uhr: analog oder digital?
Gar keine. Verwende das Handy.