Lieber Cay von Fournier,
der Werkzeugkoffer des Managers kennt unter anderem Visionen und Missionen, Werte, Strategien und Ziele sowie USPs, BSCs und SWOTs. Aus deren Anwendung resultiert aber oft nur ein hölzernes, etwas bei den Haaren herbeigezogenes Unternehmensleitbild. Welche Fallstricke gilt es bei der Suche nach einem solchen zu vermeiden?
Ihr Robert Nehring
Aufgrund der praktischen und intensiven Erfahrungen, die ich während zahlreicher Begleitungen von Firmen beim Entwickeln und Einführen eines Leitbildes sammeln durfte, kann ich versichern, dass die meisten Werkzeuge im Koffer bleiben dürfen. Sie spielen für ein echtes Leitbild keine Rolle, werden aber trotzdem häufig dazu verwendet. Daher sind auch die meisten Leitbilder keine wirklichen Leitbilder, sondern eher die Erfüllung von Vorgaben, die manche Qualitätsmanagementsysteme mit sich bringen.
Ein Leitbild ist viel mehr: Es beschreibt den Sinn eines Unternehmens. Jedes Unternehmen, das mit Leidenschaft geführt wird, Kunden begeistert und Mitarbeiter motiviert, hat einen solchen Sinn und strahlt diesen auch aus. Ob es dazu ein geschriebenes, ausformuliertes Leitbild geben muss, ist eine andere Frage. Wenn es Unternehmern und Führungskräften über einen längeren Zeitraum gelingt, einen Sinn vorzuleben, über diesen zu sprechen und vor allem die anstehenden Entscheidungen konsequent danach auszurichten, dann ist dies ein gelebtes Leitbild, ohne dass es aufgeschrieben wurde. Doch in den meisten Firmen ist den Führungskräften und teilweise sogar dem Unternehmer der Sinn nicht bewusst. Man macht sein Geschäft so gut es geht, es gibt gute und schlechte Jahre, zufriedene Kunden – und manchmal auch zufriedene Mitarbeiter. Letzteres ist, wie Studien über die Motivation und die emotionale Bindung von Mitarbeitern zeigen, allerdings leider nur sehr selten der Fall. Doch wenn ich Firmen bei der Umsetzung eines Leitbildes begleite, erlebe ich die Entfaltung eines riesigen Potenzials, das es in jedem Menschen und auch in jedem Unternehmen gibt. Zwar wird dieses Potenzial noch nicht genutzt, doch es ist die Quelle unserer nächsten „Produktivitäts-Revolution“. Der Faktor „Mensch“ wird in dieser „Revolution der Werte“ eine entscheidende Rolle spielen und dadurch die Wirtschaft grundsätzlich verändern.
Vergessen Sie also die herkömmlichen Werkzeuge und beschäftigen Sie sich mit den zentralen Werten Ihres Unternehmens und der Frage: Was ist der Sinn des Unternehmens?
Um sich der Antwort Schritt für Schritt zu nähern, habe ich eine Werte-Übung entwickelt, bei der Unternehmer zusammen mit den Führungskräften eine werteorientierte Sinn-Vision entwickeln. Diese beschreibt, zu welchem Zweck das Unternehmen existiert. Bei den meisten Unternehmen ist es in der Tat lediglich die Gewinnmaximierung, wie sie auch in der Betriebswirtschaft gelehrt wird. Aber Begeisterung entsteht so nicht. Wenn am Anfang die drei wichtigsten Werte für das Unternehmen aus der Sicht des Kunden definiert und beschrieben werden, entsteht eine emotionale Formulierung des Nutzens dieses Unternehmens – und das braucht keine USP zu sein, sondern eher eine ESP (emotional selling proposition) oder besser noch eine SSP (social selling proposition). Wenn diese Werte mit jeweils drei weiteren Werten beschrieben werden (Leitfrage: „Was meinen wir mit diesem Wert?“), entsteht der „Markenkern“ einer Unternehmensmarke und damit das eigentliche Leitbild, die Sinn-Vision sowie die Antwort auf die Frage nach dem zentralen Nutzen des Unternehmens.
Auf dieser Basis gehen Sie den nächsten Schritt: die Kommunikation und Umsetzung im Unternehmen. Schaffen Sie die Möglichkeit der Interpretation und Identifikation möglichst vieler Mitarbeiter mit dem Leitbild. Dies ist ein aufwendiger, jedoch lohnender Prozess, denn jenseits der schönen Reklamesätze eines sogenannten Leitbildes entstehen dadurch Leitgedanken, Leitwerte und letztlich ein ganz neues Bewusstsein im Unternehmen. Und genau um diese Veränderung geht es: Bedenkt man, dass wir uns in der größten Transformation der Wirtschaftsgeschichte befinden, wird es offensichtlich, dass sich alle Unternehmen verändern müssen. Dieser große Schritt wird aber nur mit den Mitarbeitern funktionieren – nicht gegen sie. Und genau darum ist ein neues Unternehmensleitbild und vor allem dessen praktische Umsetzung in ein gelebtes Wertesystem heute so wichtig. Es gibt viele Fallstricke auf dem Weg der Veränderung, aber auch zahlreiche Chancen, diese Veränderung erfolgreich und motivierend zu gestalten.
Sollten Sie Interesse an der Werte-Übung für einen modernen Leitbildprozess haben, sende ich Ihnen diese gerne zu. Eine kurze E-Mail genügt: cay.von.fournier@schmidtcolleg.de.