Die meisten Office-Worker bewegen sich deutlich zu wenig – mit zum Teil verheerenden Folgen. Es wird zu wenig gestanden und gelaufen. Aber auch im Sitzen sollte man sich bewegen. Hier startet eine Reihe zum Thema Bewegtsitzen. Von Robert Nehring.
Der Zappelphilipp ist zurück. Einst geächtet als ungehorsames, hibbeliges Kind, bezeichnet man mit diesem Ausdruck heute sogenannte ADHS-Kinder. Heinrich Hoffmanns Zappelphilipp ist aber zunehmend zur Symbolfigur für gesunde Büroarbeit geworden. Denn er verkörpert die im Büro und insbesondere beim Sitzen so notwendige Bewegung.
Alter Hut – hochaktuell
Das Thema „Bewegt sitzen im Büro“ ist nicht neu, aber heute so aktuell wie nie zuvor. Ein Grund dafür ist, dass sich die körperliche Aktivität zur Erledigung der Büroarbeit mittlerweile auf die Bewegung der Finger zur Bedienung von Maus und Tastatur reduziert hat. Ein zweiter Grund ist, dass sich in Sachen Bewegungsförderung offenbar wenig getan hat. Zumindest auf Nutzerseite: Während des Öfteren davon zu lesen ist, welche große Bedeutung die Bewegung für Gesundheit, Wohlbefinden und Produktivität des Office-Workers hat, und es immer mehr Lösungen fürs Büro gibt, die zu dieser anregen – vor allem Sitz-Steh-Tische, bewegungsfördernde Stühle oder Stehhilfen –, erledigt der im Büro Tätige seine Arbeit mehrheitlich immer noch weitgehend in starrer Sitzhaltung. Er sitzt sie quasi aus.
Heute sitzen bereits drei Viertel aller Beschäftigten bei ihrer Arbeit. Bei den 17 bis 19 Millionen Office-Workern in Deutschland – das ist hierzulande etwa jeder zweite Beschäftigte – dürfte es nur wenige Ausnahmen geben. Erwachsene in den Industrieländern sitzen im Schnitt 10–14 Stunden am Tag. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) hat errechnet, dass ein durchschnittlicher Bürobeschäftigter ca. 80–85 Prozent bzw. bis zu 80.000 Stunden in der „Po-Ebene“ verbringt. Gesundheitsexperten empfehlen deshalb, 10.000 Schritte am Tag zu machen, mindestens sollten es 6.000 sein. Im Büro Tätige schaffen aber heute im Schnitt nur 2.000–3.000 Schritte. Kein Wunder also, dass ca. 75 Prozent der Office-Worker früher oder später Rückenschmerzen haben. Dieses Büroleiden Nummer eins führt derzeit zu ca. 80 Millionen Ausfalltagen in Deutschland!
Am besten verbringt man sein Leben also in Bewegung. Aber seien wir realistisch: Büroarbeit – insbesondere das konzentrierte Schreiben am Computer – lässt sich nun mal am besten in der Sitzhaltung erledigen. Deshalb ist es aber umso wichtiger, sich auch im Sitzen zu bewegen!
Am Anfang war das Wort
Sich im Sitzen zu bewegen, also die Haltung zu wechseln, wird branchenintern als dynamisches Sitzen bezeichnet. Auch Formulierungen wie ergonomisches Sitzen oder Aktivsitzen sind dort üblich. Das aktiv-dynamische Sitzen wird dabei vom passiv-dynamischen unterschieden. Bei Erstgenanntem gibt der Sitzende selbst den Impuls zur Haltungsänderung. Beim passiv-dynamischen Sitzen wird diese durch den Stuhl vorgegeben, etwa dank eines eingebauten Motors. Der Unterschied besteht also zwischen der Animation zur Bewegung und dem Zwang zu dieser.
Gesundheitspuristen rufen nun aber: Widerspruch in sich! Dynamisch sitzen – das geht doch gar nicht. Das ist doch wie bewegungsloses Laufen. Und damit sei es kontraproduktiv, von dynamischem Sitzen zu reden.
Wovon man jedoch nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen, riet schon Wittgenstein. Genau das wäre aber grundverkehrt. Denn zu mehr Bewegung kann derzeit gar nicht genug aufgerufen werden. Wie aber, wenn man das Gemeinte nicht bezeichnen kann? Denn mit der gleichen Argumentation würde der Begriff „aktives Sitzen“ ausscheiden. Ebenso ein „flexibles“ oder „gesundes Sitzen“. Für Brancheninsider scheidet sogar das „ergonomische Sitzen“ aus. Diesem Ausdruck hafte ein nicht gerade motivierendes Weißkittelimage an. Außerdem sei er lange Zeit für die maximale Anpassung des Stuhls an den Menschen missbraucht worden, was zu seiner Fixierung und eben nicht zur Bewegung beigetragen habe.
Das Kind braucht aber einen Namen. Deshalb scheint es nach aktuellem Kenntnisstand das Beste, von Bewegtsitzen zu reden. Im Gegensatz zu den genannten Begriffen – die grundsätzlich auch richtig wären, da man sich eben auch im Sitzen bewegen kann – scheint er noch am wenigsten „verbrannt“.
Definition des Bewegtsitzens
Wie lässt sich das Bewegtsitzen aber definieren? In den entsprechenden Regelwerken und Empfehlungen kursieren verschiedene Ansätze. In Summe macht es so Sinn:
Bewegtsitzen bedeutet,
sich im Sitzen zu bewegen,
etwa durch einen Wechsel zwischen
aufrechter, vorgelehnter, zurückgelehnter
oder seitwärts geneigter Sitzhaltung
zur natürlichen Ent- und Belastung,
vor allem von Muskulatur und Bandscheiben.
Wesentlich für diese Definition ist zum einen der Wechsel der Sitzpositionen. Idealerweise werden intuitive Sitzhaltungswechsel ermöglicht – ähnlich wie beim freien Stehen. Deshalb sind flexible Stuhleigenschaften sehr empfehlenswert. Sogenannte Synchronmechaniken, über die die meisten qualitativ hochwertigen Bürodrehstühle verfügen, ermöglichen zum Beispiel ein zweidimensionales Sich-nach-vorn- und Sich-weit-nach-hinten-Lehnen. Stühle mit seitlich flexiblen Rückenlehnen oder sogenannte 3-D-Stühle bieten zusätzlich sogar Animation zu und Unterstützung bei Seitwärtsbewegungen, was in letzterem Falle sogar ein Rundum-Bewegtsitzen möglich macht.
Wichtig ist zum anderen der Gedanke, dass das Sitzen im Büro den Körper nicht nur entlasten darf, sondern ihn auch (in Maßen) belasten soll. Denn längst ist erwiesen, dass insbesondere der Rückenschmerz bei Office-Workern viel mehr von der Unterforderung als einer Überforderung dieses Körperteils herrührt. Muskeln, Bandscheiben und Wirbel benötigen einen Wechsel von Be- und Entlastung, um gut zu funktionieren. Büroarbeitsstühle sollten daher nicht nur für Entspannung, sondern auch für Aktivierung – von Muskulatur, Kreislauf, Sauerstoffversorgung etc. – sorgen.
Vorteile und Vorurteile von Bewegtsitzen
Die Vorteile des Bewegtsitzens liegen auf der Hand. Erstens die Erhaltung und Förderung der Gesundheit. Zweitens die Belebung von Physis und Psyche. Bewegsitzen steigert die Produktivität, die Leistungsbereitschaft, die Konzentration, die Motivation und sie fördert die Kreativität. Drittens lässt sich die Ausstattung mit einem Stuhl, der das Bewegsitzen besonders fördert, als Akt der Anerkennung, als Wertschätzung der Arbeit verstehen. Viertens macht bewegtes Sitzen auch einfach Spaß. Und als Summe dieser Vorteile leitet sich ein fünfter ab: Das gesteigerte Wohlbefinden des Be-Sitzers.
Diesen Aspekten stehen vermeintliche Nachteile gegenüber. Etwa erstens die psychologische Wirkung: Es könnte der Eindruck entstehen, die bewegt Sitzenden würden auf ihrem Stuhl „lümmeln“, sich „hinfläzen“. Bewegtsitzen könnte zweitens auch als Gefährdung eingestuft werden. Schließlich könnte sich jemand beim Zurücklehnen den Kopf anstoßen. Sitzmechaniken, die durch viel Bewegung viel beansprucht werden, könnten drittens schneller verschleißen. Und viertens könnten Kollegen, die nicht mit einem modernen beweglichen Stuhl ausgestattet wurden, neidisch werden. Aber all diese möglichen Einwände sind zu vernachlässigen. Es gibt keine ernst zu nehmenden Anhaltspunkte für sie.
Einzig mit dem fünften Einwand – dem Kostenfaktor – macht es Sinn, sich auseinanderzusetzen. Bewegungsstühle sind in der Regel keine Schnäppchen. Sie sind kaum für einen Listenpreis von unter 450 Euro zu haben. Demgegenüber steht der Erfahrungswert, dass heute im Schnitt nur etwa 32 Euro pro Kopf für einen Büroarbeitsstuhl ausgegeben werden. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass ein moderner Bewegungsstuhl die genannten Vorteile bietet, im Gegensatz zu Discount-Möbeln viele Jahre hält und ein Krankheitstag den Arbeitgeber heute durchschnittlich 109 Euro Produktionsausfall kostet. Aus Nutzersicht ist ebenfalls interessant, dass Institutionen wie die Deutsche Rentenversicherung die Anschaffung solcher Möbel bei nachgewiesenem Bedarf mit bis zu 435 Euro bezuschussen.
Move it!
Unterm Strich greift also nicht einmal der Kostenfaktor als Gegenargument. Deshalb: Auf die Stühle, fertig, los! Bewegen, bewegen, bewegen – nicht nur im Sitzen, auch immer wieder im Wechsel mit Stehen und Laufen! In den nächsten Folgen geht es unter anderem um die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Sitzen im Büro, die verschiedenen Mechaniken der erhältlichen Büroarbeitsstühle, die Merkmale bewegungsfördernder Stühle, die Normen, Richtlinien und Empfehlungen für Bewegtsitzen sowie Meilensteine aus dessen Geschichte.
MEHR BEWEGUNG IM BÜRO Umfassende Informationen zu den Themen Bewegtsitzen und Sitz-Steh-Arbeit bieten die Aktionen „Bewegung im Büro“ und www.büro-bewegung.de. |