Auf der Büroeinrichtungsmesse Orgatec wird Vitra, die nicht nur von Architekturstudenten kultisch verehrte Schweizer Möbelschmiede, Büroszenerien zur Verschmelzung von Arbeit und öffentlichem Raum präsentieren. Wir baten Raphael Gielgen, Trendscout von Vitra, die Hintergründe zu erläutern.
Die Arbeit, wie wir sie kennen, wird bald schon eine Erinnerung an eine andere Zeit sein. Unsere Jobs, der Arbeitsraum, die Prozesse und tägliche Routinen lösen sich auf. Ein Innovationsdruck verbunden mit neuen Technologien stellt den Status Quo in Frage. Organisationen sind wie Eco-Systeme, sie müssen keine neue Realität adaptieren, denn Adaption ist die neue Realität.
Das Zeitalter der Komplexität
Wir passen uns permanent an, um den neuen Herausforderungen gerecht zu werden, aber ob sich diese Versuche auf lange Zeit bewähren oder uns nur angreifbar machen, lässt sich schwer vorhersagen. Die neuen Werkzeuge, Methoden, Strategien und Ideen, die wir heute anwenden, können morgen schon wieder nutzlos sein.
Es geht nicht mehr um ein Wann oder Ob, sondern darum, wie dieses Neuland auf sinnvolle Weise erschlossen werden kann. Es geht um die Etablierung solider Grundlagen, auf denen aufgebaut werden kann. Der Arbeitsplatz, wie wir ihn kennen, wird in naher Zukunft nur noch eine blasse Erinnerung sein. Wir sollten uns auf die zukünftigen Herausforderungen konzentrieren und unsere Erinnerungen mit unserer Vorstellung von morgen in Einklang bringen.
Konnektivität
Konnektivität ist der maßgebliche Treiber und Schlüssel für wirtschaftliches Wachstum und Wohlstand. Sogenannte Cluster, Zusammenschlüsse von Unternehmen, Instituten oder anderen Einrichtungen, die gemeinsame Interessen verfolgen, entstehen durch Konnektivität und nicht von ganz allein in einzelnen Stadtteilen oder Orten. Um ein komplexes Netzwerk zu schaffen, in dem Waren, Dienstleistungen, Menschen, Ideen und Kapital zirkulieren, muss in einem größeren Rahmen gedacht werden. Im Gegensatz zu alten Arbeitsmethoden wird örtliche Nähe die Interaktion, Kollaboration und Effektivität zwischen den einzelnen Abteilungen steigern. Und es gibt nicht nur eine Methode, um diese neuen Cluster aufzubauen.
Campus
Der Campus ist zu einem Anziehungspunkt für neue, flexible, vielseitige und urbane Communitys geworden. Er ist ein Umfeld, das Räumlichkeiten, Gemeinschaftlichkeit und Dienstleistungen für alle Anforderungen seiner Mitglieder bereitstellt, damit diese ihr Arbeitsleben selbstbestimmt gestalten können. Der neue Typ des Campus dient vor allem der räumlichen Verortung dieser Gemeinschaften. Hier entsteht neues Wissen und wird neues Wissen verteilt. Der Campus ist ein bemerkenswerter Ort mit optimierten Technologien, der zugleich menschlich, sozial, inspirierend und erhebend ist.
Talent
Der Garagen-Entwicklergeist hat große Erfinder und Unternehmer hervorgebracht. Wir können diesen Spirit aber nicht nur auf einen kleinen Teil der Gesellschaft beschränken. In einem sich ständig wandelnden Arbeitsmarkt sind lebenslanges Lernen und eine Anpassung der persönlichen Fähigkeiten Voraussetzungen für zukünftige Kompetenzen. Die Aneignung neuer Kompetenzen ist der entscheidende Treibstoff, um zukünftiges Wirtschaftswachstum zu ermöglichen. Es gibt drei Anforderungen an den Arbeitsplatz der Zukunft: die Talente in ihrer Unterschiedlichkeit an das Unternehmen binden, diese weiterentwickeln, damit sie ihre Potenziale entfalten, und neue Talente für die Idee des Unternehmens gewinnen. Die neuen Orte der Arbeit sind dafür eine Schlüsselressource.
Freiheit
Architektur löst sich auf! Die Grenzen zwischen Industrien, Klassifizierungen und Disziplinen gehen allmählich verloren. Deshalb benötigen wir eine kontinuierliche Neuinterpretation von Räumen und Funktionen. Gebäude und Räume sind mittlerweile nicht mehr das gleiche. Menschen verschmelzen die Räume, die sie belegen, mit den Plätzen, die sie brauchen.
Permanent Beta
Beständigkeit ist nicht mehr die Grundlage der aktuellen Wirtschaft. Stattdessen geht es um permanente Modifizierung und Optimierung. Jede von uns benutzte Technologie wird ständig durch neue Entwicklungsschritte getragen. Technologie, Menschen und Räume sind immer in Bewegung. Das neue Büro macht deutlich, wie ein permanenter Beta-Status aussehen kann. Gleichzeitig wird es zu einem Labor für neue digitale Ideen und Anwendungen, von denen seine Benutzer profitieren. Wir müssen akzeptieren, dass es auf die Frage nach der Fertigstellung nur eine Antwort gibt: nie.
Humanismus
Eine höhere Lebenserwartung wird unser Leben und unsere Arbeit verändern. Das müssen Unternehmen berücksichtigen. Sie müssen die Produktivität und die Vitalität der Mitarbeiter neu denken. Wir sollten uns darauf konzentrieren, wie die gebaute Architektur der Arbeit unser Wohlbefinden verbessern kann, uns bessere Entscheidungen treffen lässt und ganz allgemein zu mehr Gesundheit und Wohlbefinden führt. Das Well Being Institute und die Living-Building-Challenge haben gezeigt, dass das Unternehmen der Zukunft nicht nur die Gesundheit seiner Mitarbeiter erhält, sondern sie auch fördert.
Nachhaltigkeit
Wir müssen einen ganzheitlichen Blick auf die globalen Probleme in unserer Gesellschaft und unseren Märkten werfen. Wie können wir das Bewusstsein für unsere Umwelt erhöhen und ein Gefühl von Dringlichkeit schaffen? Anstatt uns auf spezielle Aufgaben zu konzentrieren, müssen wir einen ganzheitlichen Blick auf soziale, wirtschaftliche und politische Themen werfen.
Künstliche Intelligenz
Das Leben um uns herum bewegt sich in Richtung einer einheitlichen, cloudbasierten Umwelt, in der aus jedem Gerät eine intelligente Maschine wird. Intelligente Gebäudelösungen geben Facility-Managern und Immobilienmaklern zum Beispiel die Werkzeuge an die Hand, mit denen sich Energieverbrauch, Raum- und Betriebskosten sowie Gebäudeplanung vereinfachen und optimieren lassen.
In einer Welt, in der Mitarbeiter immer weniger Zeit im Büro und immer mehr Zeit an Arbeitsorten außerhalb des Hauptsitzes verbringen, kann ein intelligente Gebäude auch die Mitarbeiterproduktivität erhöhen. Jahrzehnte nach der Dartmouth-Konferenz fängt die Technologie an, sich intelligent zu verhalten, und sich auf Wegen zu entwickeln, die nicht einmal ihre Erschaffer kontrollieren können.