Der Zahn der Zeit nagt unaufhörlich. Und die junge Generation scharrt schon mit den Hufen, um die älteren Kapitäne abzulösen. Im sechsten Teil seiner Kolumne berichtet Stefan Häseli davon, wie wichtig ein jugendliches Image ist.
Hannes macht sich Sorgen. Soeben wurde ein Geschäftsleitungsmitglied gewählt, das um einige Jahre jünger ist als er. Wenn er sich morgens im Spiegel betrachtet, ist nicht zu leugnen, dass er sich allmählich dem 50. Jahrestag seiner Geburtsstunde nähert. Der stetig wachsende Umfang knapp oberhalb der Gürtellinie ist auch nicht wegzudiskutieren. Nun gilt es, wirksame Gegenmaßnahmen zu entwickeln.
Er beschließt, Sport zu treiben. Das soll gut sein für die psychische und physische Gesundheit. Nach Recherchen in Men‘s-Health- und Life-Style-Magazinen folgt der Entschluss: Hannes wird Biker. Nicht einfach profan Rad fahren. Hannes entscheidet sich für etwas richtig Sportliches. Für ihn ist klar, dass er hier ambitiöse Ziele anstreben will. Beispielsweise wird jährlich der Alpen-Bikeathlon ausgetragen, der die Fitten von den Topfitten trennt. In fünf Tagen quer durch die Schweizer Berge und kumuliert mit ein paar Tausend Höhenmetern: Das ist Ansage und Herausforderung zugleich. Um noch einen Tick konkreter zu werden, plant Hannes die Teilnahme am Alpen-Bikeathlon im nächsten Sommer und strebt das erste Viertel der Rangliste an.
Ein solides Projekt muss sauber geplant sein. Zuerst geht es um die Materialbeschaffung. Hannes lässt sich beim Fachhändler über Rahmenmaterial und Übersetzungstechnik beraten und macht einige Probefahrten. Schließlich wird es ein Roadrunner Ultimate mit Carbonrahmen und High-End-Bremssystem. Das passende Outfit darf nicht fehlen – ein Renndress Bike-Passion mit integriertem Lüftungssystem in modischen Farben.
Das Umfeld soll wahrnehmen, dass man(n) dabei ist. Hannes schraubt sich einen Fahrradträger aufs Autodach. Selbstverständlich nicht ein Billigmodell aus dem Baumarkt, sondern richtige Qualitätsware. Dieser Träger bleibt auf dem Dach, damit in der Tiefgarage seines Unternehmens jeder kapiert, dass Hannes derart intensiv am Biken ist. Dazu scheint absolut wichtig, dass er in den gemeinsamen Pausen die Kollegen in sein Vorhaben einweiht. Und natürlich, wie zufällig, auch mal einen Ausdruck über XXL-Bike-Touren im Drucker liegen lässt. Er freut sich schon, wenn er im Großraumbüro auf die Frage „Wem gehört dieser Ausdruck?“ mit „Mir“ antworten kann. Marketing ist nicht alles – aber ohne Marketing ist alles nichts.
Nach der wochenlangen Zielsetzungs- und Planungsphase ist der Zeitpunkt da, sein Bike inklusive der ganzen Ausrüstung einem Feldtest zu unterziehen. Hannes stemmt das Bike aufs Auto, zieht sich den figurbetonten Renndress an und fährt aufs Land. Kaum hat er am Waldrand geparkt, nähert sich ein bellender, scharfer Hund mit Spaziergänger im Schlepptau. Der Köter blickt, als ob er denken würde: „Ah, wieder ein Biker, tolle Waden, freu mich aufs Reinbeißen.“ Hannes bleibt im Auto sitzen. Die Aussicht auf ein näheres Treffen mit dem Hund gefällt ihm gar nicht. Dieses Szenario hat er nicht durchdacht. Er bricht die Übung sofort ab und fährt nach Hause, um einen Internetartikel über das Zusammenleben von Hunden und Bikern zu suchen. Er ist froh, diese Planungslücke noch zu schließen, und meint tröstlich: „Gerade bei solch wichtigen Projekten muss man wirklich nichts überstürzen.“
Stefan Häseli ist Autor, Trainer |