Die meisten Office-Worker bewegen sich deutlich zu wenig – mit zum Teil verheerenden Folgen. Es wird zu wenig gestanden und gelaufen. Aber auch im Sitzen sollte man sich bewegen. Im zweiten Teil unserer Reihe zum Thema Bewegtsitzen geht es um die Erkenntnisse der Wissenschaft. Von Robert Nehring.
Der erste Teil dieser Serie hatte die Definition, die Vorteile und die vermeintlichen Nachteile des Bewegtsitzens zum Thema. Diesmal stehen Ergebnisse aus der wissenschaftlichen Forschung im Fokus.
Sitzen ist tödlich
Wenn heute vom Sitzen und insbesondere dem im Büro die Rede ist, wird es schnell dramatisch. In den letzten Jahren wurden Beiträge darüber zum Beispiel gern mit der Überschrift „Sitzen ist tödlich!“ versehen. Denn Studien sind zu der Ansicht gelangt, dass wer lange sitzt, früher tot ist.
Amerikanische Wissenschaftler von der Pennington Biomedical Research Louisiana etwa haben herausgefunden, dass eine um zwei Jahre höhere Lebenserwartung hat, wer täglich weniger als drei Stunden sitzt. Männer, die im Schnitt sechs Stunden am Tag und mehr sitzen, weisen laut der Studie eine 20 Prozent höhere Sterberate auf als Personen, bei denen es nur höchstens drei Stunden täglich sind. Bei Frauen ist diese Rate sogar 40 Prozent höher.
Einer Vielzahl an Studienergebnissen zufolge ist der Mensch einfach nicht dafür geschaffen, dass er heute im Schnitt 9,3 Stunden am Tag sitzt. (Zum Vergleich: Er schläft nur durchschnittlich 7,7 Stunden am Tag.) Erwachsene in den Industrieländern sitzen heutzutage im Schnitt sogar zehn bis 14 Stunden pro Tag. Und ein durchschnittlicher Office-Worker verbringt ca. 80 bis 85 Prozent oder bis zu 80.000 Stunden bzw. neun Jahre seines Berufslebens in der „Po-Ebene“.
Sitzen ruiniert den Körper
Das viele bewegungsarme Sitzen ist schlecht für den Menschen. Es zerstört seinen Körper. Muskelaktivität, Kreislauf- und Stoffwechselaktivität, Kalorienverbrauch und Fruchtbarkeit sinken, Cholesterinspiegel, Insulinwerte, Hüftumfang und das Risiko für Krankheiten – beisielsweise Krebs, Diabetes 2 und Adipositas – sowie für Rückenschmerzen, Kopfschmerzen und Haltungsschäden steigen. In sitzenden Berufen ist das Risiko für Herzerkrankungen doppelt so hoch wie in stehenden.
Langes, starres Sitzen belastet auch die Psyche. Spanische Wissenschaftler haben herausgefunden, dass diejenigen, die mehr als 42 Stunden pro Woche im Sitzen verbringen, ein um 31 Prozent erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen aufweisen.
Und wer zur Kompensation des Stillsitzens auf viel Bewegung nach Feierabend setzt, für den hatte vor einiger Zeit ein schwedisches Forscherteam um Elin Ekblom-Bak eine schlechte Nachricht. Laut ihrer im British Journal of Sports Medicine veröffentlichten Studie kann, wer lange Zeiten im Büro sitzt, die Folgen des damit verbundenen Bewegungsmangels nicht einmal mehr durch Sport in der Freizeit ausgleichen.
Geschichte der Sitzforschung
Die genauere Erforschung des Sitzens ist erst ca. 50 Jahre alt. Vom 19. bis weit ins 20. Jahrhundert hinein dominierte die Vorstellung, man müsse dauerhaft in der aufrechten Sitzposition verharren, bei der die Wirbelsäule ihre natürliche Doppel-S-Form beibehält. Gefordert war also ein stilles, starres, „strammes“ Geradesitzen. Bis die Wissenschaft Zweifel anmeldete …
Als einer der Pioniere der Sitzforschung gilt der Schweizer Arzt und Arbeitswissenschaftler Étienne Grandjean, der als Professor von 1950 bis 1983 an der ETH Zürich wirkte. Er machte unter anderem auf den „Wettbewerbskonflikt“ aufmerksam, der beim Sitzen mit gebeugtem Rücken zwischen Muskelentspannung und dem Bedürfnis der Bandscheibe entsteht. Grandjean plädierte stark für ein häufiges Zurücklehnen bei der Büroarbeit. Denn er hatte nachgewiesen, dass der Druck auf die Bandscheiben geringer wird, je größer der Winkel zwischen Rumpf und Oberschenkel ist.
Dass man sich beim Sitzen anlehnen, also den Kontakt zur Rückenlehne suchen sollte, das zeigten insbesondere die Forschungsergebnisse von Professor Dr. Paul Brinckmann von der Universität Münster. Zumindest wiesen sie nach, dass der Druck auf die Bandscheiben beim angelehnten Sitzen geringer ist als im Stehen. Laut einer Untersuchung aus dem Jahre 2009 von Dr. Fritz A. Schön und Dieter Preim (RWTH Aachen) ist die vordere Sitzhaltung ohne Lehnenkontakt mit 50 Prozent die im Büro am häufigsten praktizierte. Der Rest verteilt sich auf mittlere Sitzhaltung (31 Prozent) – hier gelegentlich auch ohne Rückenlehnenkontakt – und hintere Sitzhaltung (19 Prozent).
1998 wurde von Professor Dr. Hans-Joachim Wilke, Universität Ulm, eine Studie veröffentlicht, die die traditionelle Vorstellung vom notwendigen Geradesitzen erneut relativierte. Allerdings lag auch ihr noch ein recht statisches Sitzverständnis zugrunde. Wilke sprach sich darin für ein bequemes, angelehntes Sitzen mit leichter Kyphose (Rundrücken) aus. Denn bei diesem sei der Druck auf die Bandscheiben geringer als beim lordosierten Sitzen (Hohlkreuz). Dieses Ergebnis wurde bald durch Forschungen von Dr.-Ing. Antonius Rohlmann an der Freien Universität Berlin bestätigt. Mit der Bequemlichkeit sollte man es beim Sitzen allerdings auch nicht übertreiben. Denn, wie zum Beispiel der erfahrene Ergonomie-Experte Malte Lenkeit anmerkt: Ein lässiges Lümmeln mit extrem nach hinten gelehnter Sitzposition kann die Wirbelsäule wiederum sehr stark belasten.
Zuletzt hat immer wieder der Bewegungsspezialist Professor Dr. Ingo Froböse von der Deutschen Sporthochschule Köln aufmerksamkeitsstark auf die notwendige Bewegung bei der Büroarbeit hingewiesen. Er warnt vor einer „komatösen Unterforderung“ des Körpers, die zwangsläufig folgt, wenn man seinen Arbeitsstuhl wie eine „Prothese“ oder ein „Korsett“ benutzt.
Generell hat sich heute in der Forschung und darüber hinaus die Auffassung durchgesetzt, dass es DIE beste Sitzhaltung gar nicht gibt, sondern dass es auf häufige Wechsel der Sitzposition ankommt. Getreu dem Motto: „Die beste Sitzhaltung ist immer die nächste.“ Bürostühle sollten deshalb eine große Bewegungsfreiheit ermöglichen und am besten gleich noch zu Haltungswechseln animieren.
Zwar wird in entsprechenden Regelwerken häufig eine sogenannte Referenzhaltung beschrieben, meist eine aufrechte Haltung mit einem rechten Winkel zwischen Ober- und Unterarmen sowie einem mehr als 90° großen Winkel zwischen Ober- und Unterschenkeln. Diese soll aber nur Grundeinstellungen veranschaulichen. Oftmals wird dabei nicht deutlich genug, dass diese Haltung keinesfalls über längere Zeit beibehalten werden sollte.
Bewegung im Büro
„Bewegung!“ heißt im Büro also die Devise. Ihre Vorteile wurden einmal in der Zeitschrift GeoKompakt (Nr. 34 3/13) zusammengefasst: Bewegung gilt heute zum Beispiel nicht mehr nur als Voraussetzung für die physische, sondern längst auch für die psychische Gesundheit. Das Gehirn arbeitet durch Bewegung – aufgrund der gesteigerten Sauerstoffversorgung – auch besser. Eine Untersuchung des Hessischen Kultusministeriums zeigt, dass Kinder ihre Lese- und Rechenfähigkeit durch Sport steigern können. Bewegung wird weiterhin bereits zunehmend bei der Krebsbehandlung eingesetzt. Es wurde auch herausgefunden, dass bereits 20 Minuten körperliche Betätigung Schäden am Erbgut reparieren können. Und bei Schmerzen am Muskel-Skelett-System wird immer häufiger empfohlen, dieses durch körperliche Bewegung zu beanspruchen statt es zu schonen, es also zu belasten statt zu entlasten.
Und dabei sei es gar nicht schwer, das nötige Maß an Bewegung zu erreichen. Ein positiver Effekt für die Gesundheit trete bereits ein, wenn man fünf Mal die Woche eine halbe Stunde lang zügig spazieren gehe. Körperliche Aktivität müsse nur regelmäßig und möglichst vielseitig erfolgen. Und man sollte nie länger als eine Stunde in einer Haltung zu verharren.
Fazit: OFFICE-WORKER ALLER LÄNDER, BEWEGT EUCH!
Langes, starres Sitzen erhöht:
- den Cholesterinspiegel
- die Insulinwerte
- den Hüftumfang
- das Risiko für Krankheiten, etwa Krebs, Diabetes 2 und Adipositas
- das Risiko für Rücken- und Kopfschmerzen, für Haltungsschäden und psychische Beeinträchtigungen
- den Druck auf die Bandscheiben
- die Fehlerquote
Langes, starres Sitzen mindert:
- die Muskelaktivität
- die Kreislaufaktivität
- die Stoffwechselaktivität
- den Kalorienverbrauch
- die Lebenserwartung
- die Konzentration
- die Leistungsfähigkeit
Bewegung fördert:
- Muskelaufbau und -aktivität
- die Kreislaufaktivität
- die Stoffwechselaktivität
- den Kalorienverbrauch
- die Lebenserwartung
- die Abwehrkräfte
- die Kräftigung der Knochen, Gelenke und Organe
- eine gute Stimmung, Wohlbefinden
- Gedächtnis- und Lernleistungen
- Belebung, Motivation, Kreativität
Bewegung mindert:
- den Cholesterinspiegel
- die Insulinwerte
- den Hüftumfang
- das Risiko für Krankheiten, z. B. Krebs, Diabetes 2 und Adipositas
- das Risiko für Rücken- und Kopfschmerzen, für Haltungsschäden und psychische Beeinträchtigungen
- die Ablagerung von Salzen auf der Niere
- die Bildung von Gallensteinen
- die Alterung
- das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schlaganfall
- das Risiko für Demenz, Alzheimer
MEHR BEWEGUNG IM BÜRO Umfassende Informationen zu den Themen Bewegtsitzen und Sitz-Steh-Arbeit bieten die Aktionen „Bewegung im Büro“ und www.büro-bewegung.de. |