Unserer Gesellschaft fehlen Menschen mit Charakter, moniert Dr. Alexandra Hildebrandt. Stattdessen wimmele es unter Funktionären und Managern von Steifis. Hier beschäftigt sie sich mit diesem gesellschaftlichen Problem.
Einen Charakter zu haben, hieß für den Philosophen Immanuel Kant, nach festen Grundsätzen zu handeln und „nicht wie in einem Mückenschwarm bald hiehin, bald dahin abzuspringen“. Menschen mit Eigenschaften sterben im Zeitalter der Globalisierung und Digitalisierung immer mehr aus, während gleichzeitig profillose Aufsteiger nachwachsen. „Je steifer, desto eher kommen sie nach oben“, sagt der Businessexperte Hermann Scherer. In seinem Buch „Schatzfinder“ beschreibt er, wie man(n) sich heute in vielen gesellschaftlichen Bereichen erfolgreich nach oben versteift hat: „Wer wird heute Präsident eines politischen Verbands? Der Steifste von allen!“ Diese Lebenshaltung verbreitet sich nach unten in die Organisation und erstickt Ideen und Innovationen bereits im Keim, bügelt Ecken und Kanten glatt, langweilt und pflanzt sich fort, denn Steifis werden von Steifi eingestellt und befördert.
Goethe und der Charakter
Das Thema war bereits Goethe nicht fremd: Oft gab er sich zugeknöpft und unnahbar, doch war es ihm auf Dauer viel zu anstrengend, weil er spürte, dass die „Blüte des Vertrauens der Offenheit, der hingebenden Liebe täglich mehr“ hinwelkte. Bevor er zur Erkenntnis gelangte, dass man sich immerzu verändern, erneuern und verjüngen muss, um nicht zu verstocken, spürte er eine Versteifung und hielt sie für Diplomatie.
Das ist bei einigen Funktionären und Managern noch heute so. Was in der Gesellschaft zunehmend fehlt, sind Menschen mit Charakter, die unerschrocken für ihre Themen einstehen, mutig und berechenbar sind, die zu ihren Fehlern stehen und auch mal anecken, deren Konturen klar und nicht verwaschen sind. Das macht sie zuweilen auch angreifbar. Aber das ist der Preis, der für Echtes bezahlt werden muss. Wer erkennbar sein will und auch andere bewegt, ein authentisches und engagiertes Leben zu führen, nimmt das gern in Kauf.
Falsche Vorbilder
Unsere Vorbilderdebatte wird auch geprägt durch die Entertainerin, Schauspielerin und Autorin Désirée Nick, deren Buch „Neues von der Arschterrasse“ ein Plädoyer für das Grundwahre im Goethe‘schen Sinne ist. Nie waren die falschen Vorbilder in Zeiten der gestörten Selbstwahrnehmung so flächendeckend präsent wie heute, sagt sie und stellt die Frage: Was sollen wir unseren Töchtern und Söhnen mit auf den Weg geben, „damit sie sich in der Bilder- und Informationsflut des 21. Jahrhunderts zurechtfinden und nicht die Orientierung verlieren“?
Kein Vorbild ohne Charakter
Die diplomierte Theologin und Mutter macht auch in ihren Interviews deutlich, wie prekär sie diese Entwicklung empfindet. Denn sie macht Frauen klein, wenn sie sich auf „Barbiepuppen-Status“ reduzieren (lassen). Das von Désirée Nick kritisierte Fremdbild, das sich vom Selbstbild immer weiter entfernt und Auswirkungen auf das eigene Selbstbewusstsein hat, wird dadurch weiter ausgemalt, was dazu führt, dass vom eigentlichen Kern der Persönlichkeit nichts mehr zu sehen ist.
Vorbild sein heißt, Charakter haben, sich nicht gemein machen – weder nach unten noch und nach oben, und das zu tun, was uns innerlich leitet. Unabhängig davon, ob es gerade Mode ist oder ob es die eigene Lebensart erlaubt.
Literatur:
Alexandra Hildebrandt: „Manieren 21.0: Warum gutes Benehmen heute wieder salonfähig ist“, Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition.
Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller: „Tun statt reden. Personalverantwortung 21.0 von A bis Z“, Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition.
Dr. Alexandra Hildebrandt, Sachbuchautorin, Hochschuldozentin sowie Mitinitiatorin der Initiative „Gesichter der Nachhaltigkeit“. (Foto: Steffi Henn) |