Trotz voranschreitender Digitalisierung wird die Briefkultur nicht aussterben, glaubt Dr. Alexandra Hildebrandt. Denn Briefe erfüllen die Prophezeiung, dass die Liebe uns überdauert. Die Publizistin erläutert, was handschriftliche Briefe so besonders macht.
Schon 1976 beklagte Jean Améry in seinem Essay „Der verlorene Brief“ den Niedergang der guten Sitten und der Briefkultur: „Nichts ist demütigender als das ins Leere gesprochene Brief-Wort.“ Und heute heißt es, dass in Zukunft angeblich nur noch 2,5 Prozent aller Texte mit der Hand geschrieben werden. Diese pessimistische Prophezeiung wird allerdings von der Gegenwart überstrahlt, denn die Briefkultur kehrt zurück.
Briefeschreiben ist kreativ
Vor allem die Kreativen haben niemals ganz auf das handschriftliche Briefeschreiben verzichtet, weil es mit der Begreifbarkeit der Dinge und des Lebens unmittelbar verbunden ist. In Zeiten des digitalen Wandels wird der handgeschriebene Brief, die Liebe zum Papier, zum Handlettering, zum Schreiben und zum Lesen wieder sehr geschätzt.
Briefe werden durch die Stimmung des Schreibenden bestimmt. Sie sind ein Bindeglied zwischen Einsamkeit und Geselligkeit. Eine Lesart aus der Antike legt nahe, dass Briefe halbierte Dialoge sind, die das Gespräch mit dem abwesenden Adressaten ersetzen. Briefe schaffen nicht nur eine nachhaltige Verbindung zwischen Menschen, sondern sind auch Überlebensmittel, weil sie in schweren Zeiten Halt und Trost geben können. Wer handschriftlich Briefe verfasst, nimmt sich Zeit und verschickt sie als Zeichen seiner Zuneigung.
Handgeschriebene Briefe
- machen unser Leben innerlich reicher, denn sie vertiefen unser Weltverständnis
- stärken unser emotionales Wohlbefinden
- schärfen den detaillierten Blick für unsere Geschichte
- sind augenblickgenau und gedankenvoll
- sind Beweisstücke der Zuwendung
- haben (bis auf einige Ausnahmen) ein unbegrenztes Haltbarkeitsdatum
Briefe schwimmen gegen den Strom
Dem Trend der Onlinekommunikation zum Trotz steigt die Zahl der Menschen, die beim Schreiben buchstäblich Hand anlegen und so die Briefkultur am Leben erhalten. Ausgerechnet das Internet, der einst erklärte Feind der analogen Post, trägt dazu bei, dass sich immer mehr Gleichgesinnte finden. In der virtuellen Welt wird die Proust’sche Erinnerung an vergangene Dinge multipliziert und verstärkt: „Nichts ist nostalgischer als das Aufkommen der Handschriftlichkeit im Web.“
Die Schrift eines Menschen sagt viel über sein Wesen aus – welches wir in einer Zeit, in der das meiste nur noch digital kommuniziert wird, immer weniger auf dem Papier erkennen können.
Handschriftliches und Digitales
Die nicht-kommerzielle Website Gesichter der Nachhaltigkeit verbindet umfangreiche Texte zum jeweiligen Thema mit einem handschriftlichen Kernsatz des entsprechenden Autors, der sich auf dessen Porträtfoto findet: Die eigene Haltung ist buchstäblich ins Gesicht geschrieben. So ist jedes Bekenntnis zugleich wie ein Brief an sich selbst, der vielleicht das eigene Leben überdauert.
Literatur:
Simon Garfield: „Briefe! Ein Buch über die Liebe in Worten, wundersame Postwege und den Mann, der sich selbst verschickte“, Konrad Theiss Verlag 2015.
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: „Von Lebensdingen: Eine verantwortungsvolle Auswahl“, Amazon Media EU S.à.r.l. Kindle Edition 2017.
Dr. Alexandra Hildebrandt, Publizistin, Wirtschaftspsychologin und Nachhaltigkeitsexpertin. (Foto: Steffi Henn)
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