Nach Industrie 4.0 wird auch der Ausdruck Büro 4.0 zunehmend geläufig. Aber was verbirgt sich dahinter eigentlich und was ist davon zu halten? Eine Annäherung in drei Teilen von Dr. Robert Nehring.
Smart Office, Smart Working, New Work und Büro 4.0 sind Ausdrücke, die den aktuellen, von Digitalisierung und Flexibilität geprägten, grundlegenden Wandel der Büroarbeit beschreiben. Wie lässt sich diese Entwicklung aber fassen bzw. begreifen? Mein Versuch, sie zu beschreiben, erfolgt in drei Teilen. Nach einem smarten Szenario zur Sensibilisierung und dem Versuch einer Begriffsklärung folgt nun zum Abschluss eine Betrachtung der Herausforderungen, die mit dieser Entwicklung einhergehen.
Was bedeutet der Wandel zum digital vernetzten Büro konkret?
Zunächst einmal sterben viele altbekannte Büroprodukte aus: Das gilt nicht nur für Fax, Filofax, Rolodex und Tippex sowie für Telefonbuch und Over-Head-Projektor. Immer seltener gekauft bzw. immer weniger genutzt werden auch ISDN-Anlagen, separate Taschenrechner, klassische Stauraummöbel, Briefmarken, Briefumschläge, Frankiermaschinen, Schreibgeräte, Lineale, Scheren, Radiergummis, Aktenordner und Wiedervorlagemappen. Damit sind auch sie tendenziell in ihrer Art gefährdet.
Eile mit Weile: Zum Beispiel das papierlose Büro
Einiges wird sich aber nicht von heute auf morgen ändern. Das zeigt das Beispiel von der Vision vom papierlosen Büro. Sie wurde 1973 vom Palo Alto Research Center formuliert. Aber auch über 40 Jahre danach lässt sie noch auf sich warten. Einer Studie von Xerox zufolge soll sie zwar spätestens 2018 Realität sein – bis dahin habe Papier im Büro zu 90 Prozent ausgedient. Die Zahlen sprechen jedoch dagegen: Lag 1985 der Papierverbrauch pro Kopf in Deutschland bei durchschnittlich 177 Kilo, so waren wir 2016 laut Verband Deutscher Papierfabriken bereits bei 244 Kilogramm angelangt. Und der „Smart Worker Umfrage“ nach hat 2015 fast die Hälfte der Bürobeschäftigten in Deutschland genau so viel wie 2013 gedruckt. Nur 27 Prozent druckten weniger.
Dennoch wird in Sachen Papierverbrauch eine Tendenz deutlich. Dank des Internets haben sich die leicht verfügbaren Informationen vervielfacht. Und wurde noch vor etwa 20 Jahren beinahe jede dieser Informationen auf Papier gebannt, ist dies heute nur noch bei einem Bruchteil der Fall. E-Mails drucken immer weniger Menschen aus, Posts, Tweets und Onlinebeiträge so gut wie niemand mehr.
Die Vorteile der neuen Büroarbeit
Die Vorteile von Büro 4.0, der digital vernetzten Büroarbeit, liegen relativ klar auf der Hand. Sie dominieren die Diskussion und die mediale Berichterstattung. Die digitale Transformation erlaubt es, an verschiedenen Orten zu arbeiten (Home-Office, Coworking-Space, Café, Zug), zu verschiedenen Zeiten (früh, spät, in verschiedenen Zeitzonen; mit Vertrauensarbeitszeit) und auf unterschiedliche Weisen (etwa in Generationen und Kulturen übergreifenden, schnell wechselnden Projektteams).
Diese große Flexibilität bewirkt, dass Office-Worker heute schneller, mobiler, kollaborativer und kommunikativer arbeiten können. So ist auch mit der Digitalwirtschaft ein neuer Wirtschaftszweig gewachsen, und so sind neue, agile Geschäftsmodelle möglich geworden.
Die Herausforderungen von Büro 4.0
Etwas ausführlicher möchte ich mich den Herausforderungen zuwenden, die neue Büroarbeit meistern muss. Denn sie stehen in der Diskussion meist nicht im Fokus. Ich beschränke mich auf fünf.
Büro-4.0-Herausforderung #1: Missverständnisse
Die neuen Möglichkeiten lassen die New-Work-Fantasien nur so sprießen. Da ist dann schnell die Rede vom Tod des Büros, weil ja nun jeder von überall mit Smartphone und/oder Notebook arbeiten könne. – Obwohl es sich im Büro nachweislich immer noch am besten arbeiten lässt.
Das Ende der Festanstellung wird propagiert, weil sich der flexible Freie immer aussuchen könne, in welchem Projekt bei welchem Arbeitgeber er mitarbeiten möchte. – Obwohl Jobsicherheit von den meisten immer noch als wichtigster Karrierefaktor angesehen wird.
Und auch die E-Mail sterbe wohl bald aus – weil die viel beschworenen Digital Natives der Generation Y nur noch soziale Medien wie Facebook, Twitter und Snapchat gewohnt seien usw. usf. – Obwohl solche Kanäle für geschäftsrelevante Vereinbarungen denkbar schlecht geeignet sind und die junge Generation auch nicht ihre Teddys mit in die Firma nimmt, nur weil sie sie bis vor Kurzem so gewohnt war.
Viele Smart-Working-Propheten verkennen aber, dass die große Mehrheit der Office-Worker nicht Unternehmensberater, Marketer, Start-upler freischaffende Programmierer, Journalisten oder Kreative sind wie sie selbst, sondern zum Beispiel einfache Verwaltungsangestellte. Für solche Bürobeschäftigten ist die Überallarbeit oft gar nicht sinnvoll. Warum soll die Lohnbuchhalterin oder der Finanzbeamte im Coworking-Space arbeiten und Präsentationen im Flieger vorbereiten? Warum sollten Office-Manager Freiberufler sein? Für die meisten Office-Worker macht Büroarbeit im heimischen Schlafzimmer so wenig Sinn wie Kundenkorrespondenz via WhatsApp oder berufliche Selbstinszenierung auf Google+.
Gern hat man sich für solche Thesen auf die Gewohnheiten der Digital Natives der Generation Y (*1980–1999) berufen. Zuletzt haben aber Studien (Ernst & Young 2014, Enactus 2014) ergeben, dass noch nie eine Generation so sehr verbeamtet werden wollte: Die Y-ler sehnen sich nach Jobsicherheit, eigenem Schreibtisch, Feierabend und Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Die Generation Z (*2000–2015) wird weniger instrumentalisiert. Ihr wird keine so starke Liebe zum digitalen Nomadentum unterstellt, sondern von Anfang an ein konservativeres Denken.
Büro-4.0-Herausforderung #2: Informationsflut
Der Zugang zu Informationen ist zwar leichter geworden, aber ihre Anzahl und die der Kommunikationskanäle hat so sehr zugenommen, dass die Informationsflut schwer zu beherrschen ist. 2007 wurde einmal am Henley Management College errechnet, dass Manager allein dreieinhalb Jahre ihrer Lebenszeit mit irrelevanten Mails verschwenden. Wie viele mögen es heute sein?
Deshalb ist heute so wichtig wie noch nie zuvor,
- nicht mehr, sondern besser zu kommunizieren, sich also aufs Wesentliche zu konzentrieren und auch mal einen Kommunikationskanal auszulassen,
- statt mit Multitasking alles gleichzeitig zu probieren, mit Singletasking eine Sache nach der anderen zu erledigen und
- statt zu versuchen, immer schneller zu arbeiten, bewusst Phasen der Entschleunigung einzubauen.
Büro-4.0-Herausforderung #3: Produktivität
Das Zuviel an Information hat bereits verheerende Folgen. Durch die Zunahme der Zeit, die für Kommunikation aufgewendet wird, sinkt die Zeit für die eigentliche Arbeit. Studien zufolge fallen heute im Schnitt nur noch circa 50 Prozent der Büroarbeitszeit auf konzentrierte (Einzel-)Arbeit. Die restlichen 50 Prozent über wird „kommuniziert“. Besonders Kommunikationsformen wie Live-Chats, Facebook und Twitter bergen ein hohes Ablenkungspotenzial. Permanent reißen sie einen aus dem Zusammenhang und senken die Konzentration.
Zum Beispiel hat der Gensler Report 2013 (2.000 befragte US-Office-Worker) gezeigt, dass die Produktivität sinkt, je weniger Möglichkeit zum konzentrierten Arbeiten besteht.
Dazu passen auch die Ergebnisse einer DGB-Studie von 2016: Für 46 Prozent der Befragten ist die Arbeitsbelastung durch die Digitalisierung gestiegen, für nur neun Prozent gesunken.
Im Schnitt alle drei Minuten, so eine Studie der University of California in Irvine, werden Büroarbeiter heute unterbrochen – vom Telefon, einer E-Mail, einem Kollegen usw. 2006 belegten Studien noch durchschnittliche Unterbrechungsintervalle von „nur“ elf Minuten.
In dem Buch „Payback“ schrieb Frank Schirrmacher bereits 2009: „Der durchschnittliche Bürobewohner wechselt ständig zwischen zwölf verschiedenen Projekten, die er verfolgt, gerade beginnt oder noch zu Ende bringen muss. Dabei hält er es ungefähr 20 Sekunden vor einem geöffneten Bildschirmfenster aus.“ Diese Ablenkung koste täglich zweieinhalb Stunden. Im Schnitt dauere es 25 Minuten, bis man nach einer Unterbrechung zur ursprünglichen Tätigkeit zurückkehre, weil man diese mitunter bereits vergessen habe.
Das Hin- und Herspringen zwischen Tätigkeiten und Projekten wird noch immer gern euphemistisch als Multitasking bezeichnet, als Fähigkeit, die heute eben besonders gefragt sei. Schirrmacher sah darin den „zum Scheitern verurteilte[n] Versuch des Menschen, selbst zum Computer zu werden“ und betrachtete sie als „Körperverletzung“.
Eine Studie hat gezeigt, dass an einem Acht-Stunden-Tag im Schnitt nur noch anderthalb Stunden wirklich – also konzentriert und produktiv – gearbeitet wird. Um überhaupt noch etwas umsetzen zu können, werden in einigen Unternehmen bereits Wochentage gefordert, an denen ohne Meeting und Abstimmungsschleifen einfach mal am Stück gearbeitet werden kann.
Büro-4.0-Herausforderung #4: Neue Bürokrankheiten
Das durch die digitale Revolution hervorgerufene Multitasking ist auch Ursache für neue Krankheitsbilder, etwa der zuerst 2007 in Südkorea diagnostizierten digitalen Demenz. Ärzte bemerkten dort bei vorwiegend jungen Erwachsenen immer öfter das Auftreten von Gedächtnis-, Aufmerksamkeits-, Konzentrationsstörungen sowie eine emotionale Verflachung und allgemeine Abstumpfung infolge übermäßigen Konsums von digital verbreiteten Informationen.
Eng mit ihr verwandt ist die erworbene, umweltbedingte Aufmerksamkeitsstörung. Der amerikanische Psychiater Edward Hallowell hat sie als ADT (Attention Deficit Trait) bezeichnet, in Anlehnung an die meist genetisch bedingte ADD (Attention Deficit Disorder), welche hierzulande als ADHS bekannt ist. Besonders tückisch an dieser immer häufiger diagnostizierten Ruhelosigkeit: Die Betroffenen bemerken kaum, dass sie immer weniger schaffen. Das ständige Beschäftigtsein täuscht sie über ihre schwächer werdenden Leistungen hinweg.
In engem Zusammenhang mit ADT steht auch die vermehrt anzutreffende „Aufschieberitis“, die Prokrastination.
Büro-4.0-Herausforderung #5: Work-Life-Balance
Ein weiteres Problem für flexible Office-Worker und insbesondere Projektarbeiter ist der Abschied vom Feierabend. Das Konzept der notwendigen Work-Life-Balance gilt als überholt. Es weicht einem Work-Life-Blending, in dem die Grenzen zwischen Privat- und Arbeitsleben verschwimmen. Immer mehr Wissensarbeiter arbeiten dank digitaler Vernetzung auch am Wochenende und checken ihre beruflichen Mails noch nachts und sogar im Urlaub. Immanuel Kant bezeichnete einmal die „Ruhe nach der Arbeit“ als den größten Genuss für einen gesunden Menschen. Diesen Zustand erreichen flexible Wissensarbeiter heute aber immer seltener. Das Fehlen von Erholung, Abstand, Muße wirkt sich jedoch über kurz oder lang negativ auf ihre Arbeit und erst recht auf ihr Privatleben aus.
Sehr eng verbunden mit der Entwicklung zu größerer Flexibilität ist der Trend zu mehr Projektarbeit. Viele Unternehmen versprechen sich vor allem große Kosteneinsparungen, wenn nur noch eine kleine Kernbelegschaft fest angestellt ist, ganze Bereiche ausgegliedert werden und fast nur noch projektweise gearbeitet wird, also sachlich, zeitlich und finanziell begrenzt sowie mit wechselnden Akteuren zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten.
Wenn Projektarbeit zur vorherrschenden Arbeitsform wird, kann das jedoch zu schwerwiegenden Fehlentwicklungen führen. Für Richard Sennett und andere Arbeitsforscher sind es im Grunde die gleichen, zu denen auch die Flexibilisierung der Arbeit im Allgemeinen führt. Zu ihnen werden unter anderem gezählt: die Abnahme von Planbarkeit in Bezug auf Karriere und Familie, von institutionellem Wissen im Unternehmen (von Erfahrungswerten, was dort weshalb funktioniert und was nicht), von Solidarität sowie von Loyalität gegenüber der Firma und Vertrauen in den Arbeitgeber. Was dafür zunehme, seien Orientierungslosigkeit, diffuse Ängste vor der Zukunft, soziale Isolation und Oberflächlichkeit – im Beruflichen wie im Privaten.
„Der flexible Mensch, den der Turbokapitalismus braucht, ist überall, nur nicht bei sich.“, lautete 2010 eine ähnliche Diagnose der Autoren Johannes Czwalina und Clemens Brandstetter in „Vom Glück zu arbeiten“.
Natürlich gibt es noch weitere Herausforderungen, die Büroarbeit 4.0 zu meistern hat. Eine bilden Datensicherheit und Datenschutz. Auch in die Cloud ausgelagerte Daten können verloren gehen oder unerlaubt eingesehen werden. Und smarte Hausanlagen wissen bereits heute stets, wo sich Mitarbeiter wie lange aufhalten. Eine andere Herausforderung stellt die Ergonomie dar. Denn sie gilt in trendigen Start-up- und Coworking-Ambientes nahezu nichts mehr. Wie lange aber kann man in einem weichgepolsterten Sessel mit dem Notebook auf den Oberschenkeln ohne Rückenschmerzen arbeitet?
Büro 4.0 als Chance begegnen
Es spricht also auch so einiges gegen die neuen Freiheiten, die die Digitalisierung eröffnet. Ihre Vorteile sind jedoch unbestritten. Richtig eingesetzt, machen smarte Lösungen die Büroarbeit schneller, einfacher, erfolgreicher.
Die vielen bunten Smarties im Büro, vom vernetzten Stuhl bis zum interaktiven Whiteboard, bergen großes Potenzial und können die Büroarbeit in beinahe jeder Beziehung besser machen.
Zwar wird die digitale Transformation im Office einige Jobs kosten, jedoch wird sie auch viele neue schaffen. In Unternehmen einen CDO zu ernennen, einen Chief Digital Officer, dürfte sich in den meisten Fällen lohnen.
Wenn die genannten Herausforderungen gemeistert statt ignoriert werden, ist die Entwicklung zum Büro 4.0 eine sehr positive. Sie sollten ihm – so noch nicht geschehen – bald eine Chance geben.