Birgit Gebhardt beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Zukunft unserer Arbeitskultur. Nun ist ihre neue New-Work-Order-Studie erschienen. Wir sprachen mit der Trendforscherin über die Entwicklung der Bürokultur und die neue Rolle des Büros.
OFFICE ROXX: Frau Gebhardt, die Coronapandemie hat auch insbesondere die Bürowelt auf den Kopf gestellt. Welche Veränderungen finden Sie am gravierendsten?
Birgit Gebhardt: Dass die Impulse zur Veränderung nicht mehr von Personalentwicklung und Corporate Real Estate kommen, sondern von den Angestellten. Dabei ist es ganz interessant zu sehen, dass die Mitarbeitenden die gleichen Prämissen, die ihnen zuvor von der Arbeitswelt auferlegt wurden – sei flexibel, such‘ dir neue Aufgaben, vernetzte dich, organisiere dich selbst, arbeite von zu Hause aus, ... – jetzt für sich selbst einfordern.
Die Bürowelt, die bislang für eine schlanke Organisation, mehr interne Kommunikation, Transparenz, mehr Wirtschaftlichkeit und Effizienz im Betrieb geplant hat, muss erkennen, dass sie damit zwar ihren eigenen Anforderungen, aber nicht denen ihrer Endnutzer entsprochen hat. Gravierend finde ich, wie viele Büros gegenüber ihren Nutzern keinen spürbaren Mehrwert vermitteln konnten, ihre Entscheider jetzt die No-Show-Quittung erhalten und noch immer an ihrem Rechenspiel von Belegungszahlen und verfügbaren Bildschirmarbeitsplätzen festhalten.
Die Branche konstatiert selbst, dass gut ein Drittel der Fläche nicht mehr genutzt und in Konsequenz abgebaut wird. Fast hat man den Eindruck, sie schreiben sich gerade selbst ab, denn ihre Lösung heißt: Desk-Sharing per Buchungssystem und flexible Begegnungsfläche. Wen soll das zurück ins Büro ziehen? Der Arbeitsplatz zu Hause ist damit verlässlicher als der im Office. Mit dem Konzept wird das Büro nicht nur seine Nutzer, sondern auch seine Bedeutung verlieren. Aber nur so wird vielleicht endlich die neue Arbeitswelt sichtbar.
Kürzlich ist Ihre New-Work-Order-Studie „Die Macht des Raums“ erschienen. Was sind die wichtigsten Erkenntnisse?
Dass wir nur zu einer nutzerzentrierten Arbeitswelt finden, wenn wir begreifen, was Raum für uns Menschen sowie unsere Lern- und Leistungsfähigkeit bedeutet. Dazu zwei Bemerkungen: Erstens ist da die Feststellung, dass wir Menschen über unsere Sinne permanent mit unserer Umgebung interagieren und deren Signale immer räumlich verarbeiten. Wir lokalisieren Schmerzen am Körper, identifizieren Geräusch- oder Duftquellen im Raum, überwinden Distanzen über abstrakte Kommunikationsräume und beschreiben Szenarien für die Zukunft. Jede unserer Erfahrungen oder Vorstellungen ist eingebettet in ein Raumempfinden, damit wir uns mit der Umwelt in Beziehungen setzen können. Wenn wir also von Natur aus ständig damit beschäftigt sind, uns zu verorten, warum verwenden wir diese Veranlagung nicht bewusster bei der Wahl oder Bespielung unserer Arbeitsräume?
Zweitens wollte ich diese Möglichkeit mit den smarten Tools unserer hybriden Arbeitswelt weiterdenken: Wir betreten erweiterte Räume und Realitäten. Fiktives überlagert unsere Kohlenstoffwelt. Erfahrungen im Gaming übersteigen das Menschenmögliche. Einspielungen werden als „Blended Learning“ erfahr- und gestaltbar. Wir können räumliche wie zeitliche Dimensionen sprengen: von 2-D- auf 3-D-(Druck), vom digitalen Zwilling in die simulierte Stadtplanung. Im Grunde sind wir mit dem Erproben der digitalen Tools weiter als im Begreifen unserer eigenen räumlichen Interaktionskompetenz. Dabei läge genau in der Zusammenführung auf einer gemeinsamen Lern- und Erlebnisfläche das neue Potenzial für das Büro!
Doch dafür müssen wir erkennen, wie stark wir Menschen mit Räumen interagieren, welche Vorteile wir in realen Räumen und erweiterten Realitäten erleben, für welche Arbeitsabsicht physische Präsenz unersetzlich ist und was ein gemeinsam erlebter Arbeitsraum bewirken kann. Wenn die Arbeitsmittel zum Menschen wandern, könnte man glauben, die Arbeitsumgebung wäre unbedeutend. Aber das Gegenteil ist der Fall: Das Phänomen Raum erreicht seine Nutzer in zweifacher Hinsicht: mit dem abstrakten Kommunikationsraum, in dem man Zeiten und Realitäten überwindet, und über den physischen Begegnungsraum, in dem Menschen ihre Grenzen untereinander überwinden.
Wie sieht das moderne Büro von heute aus? Muss es Lagerfeuer und Heimathafen sein, wie oft zu lesen ist?
Diese Motive mögen vielleicht schon etwas abgedroschen sein, aber sie sind hilfreich, denn sie adressieren Verstand und Gefühlswelt gleichermaßen. Sie sind außerdem geeignet, weil ihre Motive auf kulturelle Riten oder Metaphern verweisen, die vom Büro als Ort der Pflichterfüllung wegführen und eine Einladung für ein bestimmtes Erleben von Zugehörigkeit aussprechen. Mehr noch: Bietet die Umgebung – samt der in ihr Agierenden – schon ein assoziatives Abbild der Arbeitshaltung, die ein Neuankömmling einnehmen will, fällt ihm der Switch in die Arbeits- oder Gesprächshaltung leichter. Vor allem in flexiblen Strukturen und bei einer freien Entscheidung, wie und wo man arbeiten möchte, werden Vorbilder, Rituale und Symbolik zu wichtigen Mustern, um sich selbst effizienter zu orientieren und zu organisieren. Aber natürlich kommt es auf die Übersetzung an.
Das Einzelbüro wird zunehmend zum alten weißen Mann der Büroformen. In offenen Konzepten wird jedoch oft ignoriert, dass Menschen territoriale Wesen sind …
Richtig. Das bestätigte mir der kognitive Neurologe Colin Ellard: Wir Menschen sind soziale, aber auch territoriale Wesen. Im Verlaufe meiner Recherchen ist mir dann aufgefallen, dass wir in zweierlei Richtung territorial agieren. Zunächst in unserem evolutionären Verhaltensimpuls im Sinne der Reviermarkierung zur Abgrenzung oder auch Besitzergreifung. Es trifft aber auch für unsere kognitive Wahrnehmung zu, weil unsere Sinne die Umgebung permanent nach Mustern absuchen, die uns vertraut oder für die augenblickliche Situation passend erscheinen. Entsprechend wirken Umgebungen oder auch Arbeitsräume nie neutral, sondern sind von jedem bereits mit Erfahrungen, Gewohnheiten oder auch Abneigungen aufgeladen. Es ist also ein schwieriges Terrain – vor allem wenn man Arbeitsweisen transformieren und Routinen an neue Herausforderungen anpassen will. Gleichwohl ist die Gestaltung der Umgebung dafür ein wesentlicher und bislang kaum strategisch eingesetzter Hebel.
Viele Unternehmen stecken heute in einem Dilemma: Sie haben viel in die Attraktivität der Büroräume investiert, aber die Mitarbeitenden wollen – wie bei Apple in Cupertino – trotzdem lieber zu Hause arbeiten. Wie lässt sich dieses Problem lösen?
Die Frage ist schlicht: In was habe ich investiert? In eine schicke Markenidentität, von der ich hoffe, dass sie als Wow-Effekt auf meine Angestellten abstrahlt? Gerade Apple verfolgt dieses Markendenken ja sehr rigoros von Headquarter bis Endprodukt und setzt es top-down um. Oder verstehe ich Büroattraktivität nutzerzentriert, das heißt: nicht dekorativ, sondern als strategischen Hebel zur Arbeitserleichterung, wo Mitarbeitende vor Ort einen Unterschied in ihrer Energie und Effektivität spüren. Das bedeutet dann rückkoppelnd auch ein spürbares Asset für die Arbeitgebermarke. Die Kultur, die aus dem ersten Konzept entsteht, braucht ein Designmanual und ist verpflichtend. Die Kultur, die aus der Nutzerbefähigung entsteht, braucht einladende Signale und emotionale Stimuli – und wird dann von den Mitarbeitenden gelebt und abgebildet. Ihr Ausdruck ist vielfältig und adaptiv.
2012 ist im Auftrag des deutschen Büroeinrichtungsverbandes IBA Ihre erste New-Work-Order-Studie erschienen. „Die Macht des Raums“ ist bereits die vierte Folgestudie. Sind die in den Studien formulierten Prognosen eingetreten?
Es ist lustig, dass Sie das fragen, denn die Basisstudie wurde gerade neu aufgelegt, weil Lesern auffiel, dass darin alle Trends beschrieben sind, die sie jetzt umtreiben: Mobile Work und Coworking, die Nutzerzentrierung, der Fachkräftemangel, vier Generationen im Büro und agile Organisationsformen, ... Das liegt daran, dass die Basisstudie den Haupttreiber des New-Work-Trends aufgedröselt hat: Sie fragt, wie digitale Kommunikation mit Menschen, Medien und Maschinen unsere Zusammenarbeit verändert. Gerade heute, wo Kommunikation unsere Hauptbeschäftigung geworden ist, seziert die Studie das Warum, Woher und Wie weiter.
Dadurch, dass ich Trendentwicklungen anhand von Pionierbeispielen und Experteninterviews beschreibe, sind die Studien nie losgelöst von der Realität. Aber natürlich ziehe ich aus den Besuchen und Gesprächen meine Schlüsse und versuche neue Perspektiven aufzuzeigen. Ab der dritten Studie („Kreative Lernwelten“) habe ich begonnen, stärker auf neue Wege zu verweisen, und den Fokus durch Hinzunahme neuer Schulkonzepte erweitert. Aber das Thema Lernwelt war 2016 für die Bürowelt scheinbar noch zu früh, es rückt erst jetzt langsam auf die Agenda. Bei der vierten Studie („The Human Factor@Work“) haben mich die Interviews mit Neurologen und Psychologen sehr begeistert und die Bürobeispiele dann so enttäuscht, dass ich hier wohl die meisten Hypothesen reingegeben habe. Sie sind aber als meine Interpretation deutlich abgesetzt. Die fünfte Studie („Die Macht des Raums“) ist ein Schwerpunkt zur Büroleitmesse Orgatec. Sie bündelt alle Erkenntnisse unter dem Fokus Raum und Raumwirkung. Gerade für die hybride Arbeitswelt, die wir in vielerlei Hinsicht noch falsch angehen, bietet sie Aufklärung und skizziert die Wirkpotenziale unterschiedlicher Räume für unterschiedliche Arbeitsabsichten. Hier werden teilweise auch Ansätze aus den anderen Studien zitiert und neu hinterfragt.
Seit etwa zehn Jahren ist das Thema New Work in Deutschland sehr präsent. Auf dem New-Work-Festival NWX22 in Hamburg hatten wir den Eindruck, das Thema sei nun erwachsen geworden, weil es auch viele kritische Stimmen zu Purpose, Holokratie und Agilität gab. Wie ist Ihr Eindruck?
Auch unter dem New-Work-Schirm lassen sich Prozesse bürokratisieren oder Menschen von ihrer Arbeit distanzieren. New Work ist auch nicht der Allheilsbringer, zu dem viele die Bewegung verbrämen. Noch immer ziehen wir nicht an einem Strang. Der Arbeitsmarkt hat sich weiter gespalten und vielen New-Work-Utopien fehlt die ökonomische Nachhaltigkeit als notwendiger Transformator. Aber so ist das mit Trends: Sie starten als heller Stern, werden von Sehnsüchten überhäuft und müssen sich dann am echten Leben reiben, um ihre Strahlkraft zu behalten.
New Work ist ein Megatrend, der in den letzten zehn Jahren im Mainstream angekommen ist, der in den Unternehmen aber zunächst unterschiedliche Prioritäten bekommen hat. Während der Pandemie hat sich dann für alle die vernetzte Zusammenarbeit als wirksam erwiesen, was die Selbstorganisation der Angestellten und sukzessive auch ihre Freiheitsgrade erhöht hat. Es wäre jetzt allerdings kontraproduktiv, wenn mit der neu gewonnenen Souveränität auch die Distanz zum Unternehmen wüchse. Die räumliche Abnabelung und der Fokus auf die eigene Work-Life-Balance können als erste Indizien dafür gelten. Angesichts steigender Energiekosten und gebotener Ressourcenschonung kann der Verzicht auf das Büro nun als verantwortungsvolles Handeln verkauft werden. Doch wenn der Raum, den das Unternehmen zur Zusammenarbeit bereitstellt, nur noch virtuell und nicht mehr physisch erfahrbar ist, berauben wir uns der Chance einer spürbaren Unternehmenskultur und all der Energie, die mitschwingt, wenn Menschen auf begrenztem Raum an gemeinsamen Inhalten zusammenarbeiten.
Mit Future Pics haben Sie ein sehr interessantes Buch über unsere künftige Lebens- und Arbeitswelt geschrieben. Nehmen Sie uns doch einmal mit: Wie werden wir 2040 leben und arbeiten? Geht da noch jemand ins Büro oder treffen sich alle im Metaverse?
Ich denke, dass es viele ganz verschiedene Arbeitsräume und -welten geben wird, die sich abgrenzen und überlagern. Sie werden sich aber nicht mehr uniform oder technisch anfühlen, sondern viel sanfter mit uns interagieren und uns inspirieren. Im besten Fall werden wir bei der Arbeit etwas dazulernen und mehr über uns selbst erfahren – durch spielerische Interaktionen mit anderen, durch branchenfremde Erfahrungen, durch kulturelle Angebote und adaptive Umgebungen.
Im Buch hat zum Beispiel eine Unternehmerin ihren Familienbetrieb vom Gewerbegebiet in einen Gutshof verlagert, weil nicht mehr die Produktion von Gütern, sondern die Erzeugung von Ideen ausschlaggebend für ihr Geschäft und also den Arbeitsort ist. Auf dem umgebauten Gutshof gibt es fast klösterliche Klausurräume, Kundenworkshops in Gewächshäusern, gemeinsame Mahlzeiten und Spaziergänge durch die Landschaft. Menschen und Umgebung sind smart vernetzt, aber der Support kommt zum Beispiel über einen Lichtfarbwechsel eher unterschwellig.
Im Buch treibt mich generell die Frage um, was Arbeit für uns Menschen bedeutet und wie sie uns in Zukunft beschäftigen wird. Die Kurzgeschichten beschreiben daher auch Szenarien zur Familienarbeit, zur Bildungs-, Pflege- oder gar Flüchtlingsarbeit. Vom Menschen aus gedacht landet man nicht nur schneller bei den gesellschaftlichen Herausforderungen, man kommt auch auf neue Ansätze. So befassen sich fünf Kapitel mit dem Wohnen und Arbeiten in einer Smart City – mal Hamburg, mal Peking – und überzeichnen die Veränderungen, die mir bei meinen Gesprächen und Besuchen aufgefallen sind: selbstfahrende Autos, die als komfortables Einzelbüro genutzt werden, Stadtentwicklungsprojekte, die den individuellen Arbeitsweg auf Kanäle verlegen wollen, Prototypenmärkte, ausgerichtet von Designfakultäten mit Inkubatoren, markenkuratierte Pop-up-Stores, in denen sich Influencer quasi vom Ladengeschäft bis in die Kreation „hocharbeiten“ können. Oder berühmte Wissensträger, die sich sogar nach ihrem Tod noch am kleinen Hausschrein anrufen und dank künstlicher Intelligenz befragen lassen. Die vielleicht gewagteste Arbeitswelt eines innerstädtischen Konzerns gibt es unter „Future Pods“ jetzt neu auch als Hörspiel.
Vielen Dank.
Die Fragen stellte Robert Nehring.
Tipps
OFFICE-ROXX-BürotrendforumBirgit Gebhardt gehört zu den Speakern des OFFICE-ROXX-Bürotrendforums am 28. Oktober 2022 auf der Orgatec in Köln. Die Veranstaltung ist kostenfrei. Mehr Informationen finden Sie hier.
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