Der Wirtschaftspsychologe Prof. Dr. Ingo Hamm hat ein Problem mit dem Purpose, der uns heute an allen Ecken begegnet. Er sagt, dass der Sinn bei der Arbeit nie im noblen Purpose des Unternehmens, sondern immer nur im eigenen Tun zu finden ist. Im Interview verrät er, inwiefern Sinn eigentlich das Gegenteil von Purpose ist und man vor Benefits nur warnen kann.
OFFICE ROXX: Herr Professor Dr. Hamm, kaum ein Start-up traut sich noch, ohne einen Purpose wie „Making the world a better place“ zum Pitch anzutreten. Warum müssen heute alle Unternehmen die Welt retten?
Prof. Dr. Ingo Hamm: Viele HR-Verantwortliche und Führungskräfte versuchen Antworten zu geben, denn viele Menschen suchen eine Erklärung, einen Sinn in etwas, das sie nicht mehr ganz verstehen und das sie nicht mehr wirklich mit Überzeugung oder gar gerne machen: ihre Arbeit.
Auch wenn viele Unternehmen es vielleicht gut meinen mit der Welt und ihren Angestellten – wenn man die vollmundigen Aussagen gedanklich neben das stellt, was die Unternehmen tatsächlich produzieren und anbieten, drängt sich der Verdacht auf, dass deren Employer Branding endlich den Bereich der Fakten verlassen hat und quasi-religiöse Heilsversprechen bietet.
Ihr Buch „Sinnlos glücklich“ will den heute an allen Ecken begegnenden Unternehmens-Purpose als Etikettenschwindel entlarven. Was ist denn das Problem mit diesem?
Man muss leider nüchtern feststellen, dass trotz Purpose und vieler New-Work-Versprechungen viele Menschen mit ihrer Arbeit unzufrieden sind und sich trotz verordnetem Unternehmenssinn ganz persönlich sehr wohl die Sinn-Frage stellen. Deshalb wollte ich der Sache auf den Grund gehen. Ich wollte den Unsinn mit dem Sinn beenden. Mir geht es dabei nicht um „Berater-Bashing“ oder „Corporate Finger Pointing“. Ich will vielmehr zeigen: Die Antwort auf die Sinnfrage ist längst gefunden! Philosophie und Psychologie haben längst herausgefunden, was Sinn macht.
Sinn ist also kein Benefit, mit dem man um Fachkräfte werben kann?
Nichts gegen Vorhaben wie „Wir müssen das Klima retten!“ Doch dieses hehre Ziel wird ein Einzelner mit seiner Arbeit nie erreichen können. Was dagegen Sinn stiftet, ist das, was er durch Anwendung seiner Kompetenz täglich sichtbar bewirken kann.
Es gibt keinen funktionierenden Sinn, wenn er, wie der Purpose, von außen oder von oben vorgegeben wird. Sinn lässt sich nicht verordnen. Man muss selbst seinen eigenen Sinn finden, in der eigenen Tätigkeit, durch das eigene, ganz konkrete Tun. Sinn taugt also nicht zu Werbezwecken. Ich würde eher sagen: Sinn ist Selbstverantwortung, aber auch Chefsache. Jeder Vorgesetzte, der seine Teammitglieder schätzt, sollte ihnen helfen, Sinn in ihrer Arbeit zu finden. Viele verwechseln das mit „Motivation“, aber wenn ein Vorgesetzter seine Teammitglieder motivieren muss, stimmt etwas nicht. Dann hat er nämlich vorher schon die intrinsische Motivation seiner Leute kaputtgemacht – oder sie war nie wirklich da.
Wäre es nicht am besten, wenn man Sinn in seiner Arbeit finden und das Unternehmen einen hehren Zweck verfolgen würde?
Ich halte es wie Viktor Frankl, der sagte: „Sinn kann nicht gegeben, sondern muss gefunden werden.“ Und zwar von jedem Menschen selbst. Vorsagen funktioniert nicht. Wenn Menschen, die ihren Sinn gefunden haben, diesen beschreiben, ist das immer sehr konkret und kompetenzbezogen, zum Beispiel: „Ich helfe Menschen!“, „Ich beherrsche das, was ich täglich tue.“, „Ich bewirke sichtbare Ergebnisse mit meiner Arbeit.“ Und in dem Sinne sind die Taten des Unternehmens die Summe aller Taten der Mitarbeitenden – nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Richard David Precht plädiert in seinem neuen Buch „Freiheit für alle“ für den Übergang von der Arbeits- in eine Sinngesellschaft. Sie hätten es lieber umgekehrt – vom Purpose zurück zur Arbeit?
Ich bin überzeugt, dass der Schlüssel zur Erfüllung im Tun liegt, denn da kann man zeigen, was man draufhat und wird glücklich damit. Ich gebe Ihnen ein Beispiel für zwei völlig verschiedene Sichtweisen, was Menschen antreibt. Antoine de Saint-Exupéry sagte mal: „Lehre die Menschen die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.“ Klingt toll, als Kalenderspruch. Aber in der Realität funktioniert das nicht, weil Sehnsucht, Utopie nicht dauerhaft motiviert. Der Polarforscher Ernest Shackleton hingegen hat für seine Expedition in einer Stellenanzeige Begleiter gesucht mit den Worten: „Männer für waghalsige Reise gesucht. Geringe Löhne, extreme Kälte. (...) Sichere Heimkehr ungewiss. Ehre und Ruhm im Erfolgsfalle.“ Daraufhin soll er 5.000 Bewerber gehabt haben. Weil es konkret ist, weil es das Tun anspricht, weil es an Kompetenzen appelliert.
Purpose gehört zu New Work wie duzen und weiße Turnschuhe. Was halten Sie von dieser Bewegung?
New Work ist wichtig, wenn es um die permanente kritische Reflexion von Arbeitsbedingungen, von Führungsstilen, von Unternehmenskulturen geht – und zwar nicht nur aus Sicht des Wohlergehens des Einzelnen, sondern auch der ständigen Neuerfindung von menschlicher Produktivität und Kreativität. Aber viele New-Work-Konzepte erscheinen mir neuerdings wie nahezu wahllose Köder im Teich der knappen Fachkräfte, nach dem Motto: „Alles mal anbieten, was Menschen privat bewegt.“
Aber das löst nicht die enormen Herausforderungen des Spannungsfeldes zwischen Beruf, Familie und Selbst. New Work gibt häufig vor, alles miteinander verbinden zu können, aber real funktioniert das selten. Hier wäre mehr Ehrlichkeit und vor allem Fokussierung sinnvoll.
In der griechischen Mythologie muss Sisyphos auf ewig einen Felsblock einen Berg hinaufwälzen, der kurz vor dem Gipfel immer wieder ins Tal gestoßen wird. Für Albert Camus und Sie sollen wir uns Sisyphos aber als glücklichen Menschen vorstellen. Das müssen Sie erklären.
Sisyphos, der „sinnlos“ einen schweren Stein rollen muss, findet Sinn darin, weil er sich auf den Stein konzentriert und nicht auf den Berg. Weil er kraft seiner Kompetenz ein Ergebnis erreicht. Wir müssen uns Sisyphos als Athleten vorstellen, der über jeden Zentimeter, den er den Stein zu stemmen in der Lage ist, Stolz empfindet, sich verbessern möchte.
Und noch ein Aspekt gibt Sisyphos Zuversicht: Er schert sich nicht um die Götter, oder besser noch: Er vergisst sie ob seiner Aufgabe. Übertragen auf Arbeit: Wir denken Arbeit häufig zu sehr als belastende Nebensache, ja als Strafe, wir sehen in Führungskräften oft die zornigen Götter, die uns Schlechtes wollen. Dabei liegt das Glück in der eigenen Existenz und existenziellen Erfahrung am Felsblock selbst, in der Effektivität der Bewegung und nicht in dem, was kommen könnte.
Wie muss Arbeit konkret sein, damit sie als sinnstiftend gelten kann.
Die Wissenschaft hat schon lange herausgefunden, welche Arbeit Sinn macht. Äußerst nützlich ist zum Beispiel das „Job Characteristics Model“ von Hackman und Oldham. Danach braucht es nur fünf Zutaten. Arbeit ist dann erfüllend, wenn sie 1. vielfältig und 2. bedeutsam, 3. von vorne bis hinten und 4. relativ autonom ausgeführt werden kann sowie 5. Feedback bietet.
Aber Achtung: Nach dieser Definition kann man auch einen Job in der Waffenproduktion als sinnvoll empfinden. Einiges, was wir tun, kann durchaus Sinn machen, aber unmoralisch sein. Ein sinnvolles Leben ist schön, doch erst ein sinnvolles und moralisches Leben macht einen glücklichen und guten Menschen aus uns.
Lassen sich Beschäftigte extrinsisch motivieren? Zu irgendetwas müssen doch die ganzen Benefits gut sein.
Zu viele äußere Anreize, zum Beispiel monetärer Art, (zer)stören die intrinsische Motivation, die eigentliche Sinngebung bei der Arbeit, die Erfüllung in der konkreten Tätigkeit. Dazu gibt es erschütternde Studien, in denen zum Beispiel Kinder Bilder malen sollten. Die eine Gruppe bekam dafür eine materielle Belohnung, die andere nicht. Die belohnte Gruppe wollte nach einigen Durchgängen ohne Belohnung gar nicht mehr malen. Die unbelohnte Gruppe malte munter weiter: Die Belohnung hatte die erste Gruppe einer der beliebtesten Tätigkeiten von Kindern beraubt. Weil nicht die Belohnung, sondern die Tätigkeit an sich sinnstiftend ist! Ergo könnte man mahnen: Übertreibt es in Unternehmen nicht mit monetären und materiellen Anreizen! Leider kommt diese Warnung für die meisten Unternehmen zu spät. Sie überschütten die Belegschaft förmlich mit äußeren Anreizen und wundern sich, dass die Menschen dennoch innerlich kündigen – denn sie kommen nicht mehr zu dem, was sie gerne machen und schon immer gut konnten.
Vielen Dank.
Die Fragen stellte Robert Nehring.
BUCHTIPP: Ingo Hamm: „Sinnlos glücklich: Wie man auch ohne Purpose Erfüllung bei der Arbeit findet*“, Vahlen 2021, 259 S., 26,90 €. |