Am 20. Oktober findet die Amagno.Connect 2021 statt. Mit dabei als Keynote-Speaker ist Lars Thomsen. Wir sprachen mit dem Schweizer Zukunftsforscher über seine Arbeit, die zunehmende Relevanz von Digitalisierung, Blockchain-Technologien und über künstliche Intelligenz.
OFFICE ROXX: Herr Thomsen, Ihre Mutter war Kindergärtnerin, Ihr Vater Bauingenieur. Bei abendlichen Diskussionen ging es sicherlich hoch her, wenn Vision auf Realität trifft. Was haben Sie für sich daraus mitnehmen können?
Lars Thomsen: Schöne Frage. Als Kind und Heranwachsender erfuhr ich die Spannung zwischen dem Träumen oder Ausleben der Kreativität und der Frage des Machbaren. Ich lernte, dass man erst etwas bauen kann, wenn es auch den physikalischen Gesetzen genügt. Gleichzeitig lernte ich auch, mich mit kritischen Fragen auseinanderzusetzen: „Braucht das jemand?“ oder „Ist das sinnvoll?“ Dabei habe ich gemerkt, dass sowohl Utopie – also Gedanken über Dinge, die es noch nicht gibt – eine wichtige Rolle spielt, aber eben auch die technischen und ökonomischen Dimensionen nicht vernachlässigt werden dürfen. Wenn wir also von Innovation und Zukunft sprechen, müssen wir uns überlegen, wie sie sich umsetzen lassen. Wir müssen aber auch bereit sein, uns etwas vorzustellen, dass es noch nicht gibt. Utopie bedeutet, dass wir unseren Kopf und unsere Kreativität nutzen, und uns die Zeit und den Raum nehmen, zu überlegen, wie es wäre, wenn.
Das klingt einfach.
Vielen Menschen fällt es schwer, sich einfach mal darauf einzulassen. Natürlich dürfen wir nicht nur Luftschlösser bauen, Träumer und Fantasten sein. Und natürlich braucht es auch genauso viele oder gar mehr, die all das umsetzen können. Mittel- bis langfristig werden sich jedoch die Innovationen durchsetzen, die Menschen mögen und für die sie bereit sind, Geld auszugeben, da ihr Leben damit besser wird.
Für erfolgreiche Innovationen bedarf es drei Dinge: ein Quäntchen Utopie, die Prüfung des Möglichen und innovative Menschen, die den Mut haben, sie auszuprobieren. Dann entscheidet der Kunde, ob die Ideen erfolgreich werden oder nicht. Wichtig dabei ist, dass wir uns mit Dingen auseinandersetzen und Entscheidungen auf einer informierten Basis treffen, anstatt es allein unserem Bauchgefühl zu überlassen oder der Frage, woran wir glauben oder eben auch nicht.
Sie sind Zukunftsforscher. Wie viel von ihrer Arbeit besteht aus dem Blick in die Kristallkugel und wie viel ist die Analyse und Auswertung von Daten und Fakten?
Am besten arbeitet man als Zukunftsforscher, wenn man neugierig bleibt und mit möglichst vielen Leuten spricht, die an der Zukunft arbeiten. Zukunftsforschung hat also weniger mit dem Lesen einer Kristallkugel und dem Auswerten und Analysieren von Daten und Fakten aus der Vergangenheit zu tun. Ich verbringe vielmehr viel Zeit damit, mich mit den Gedanken oder Themen innovativer Menschen zu beschäftigen, von denen ich lese oder höre – das können Beiträge auf einem Kongress sein, Fachartikel oder Personen, die neue Konzepte vorschlagen. Dann überlege ich mir, wie ich diese Utopie einschätze und wie, wann zu welchen Kosten dies umzusetzen wäre.
Oftmals treten wir dann sogar in einen direkten Austausch mit diesen Menschen. Wir fragen unsere Gesprächspartner, zu welchem Zeitpunkt sie die Tipping-Points einschätzen, wann sie die Disruption erwarten oder wie es um die ökonomischen Aspekte steht. Wenn man jedes Jahr mit Hunderten von Leuten spricht, die an der Zukunft arbeiten, bekommt man ein gutes Bild davon, was im Moment so läuft und woran gearbeitet wird. Zukunftsforschung ist also keine Voodoo-Wissenschaft, kein Kristallkugellesen oder eine besondere Fähigkeit, sondern eine gute Mischung aus Neugier und Spaß an Innovationen.
In der ECM-Branche werden immer noch strukturierte digitale Daten in ein analoges Dokument auf Papier konvertiert, um es später mit ECM-Lösungen wieder zu digitalisieren. Wie sehen Sie dieses Thema?
Ich bin immer wieder erstaunt, wie lange Prozesse dauern. Schließlich haben wir schon in den 1980er- und 1990er-Jahren über Medienbrüche gesprochen und es ist einfach komplett logisch, dass das Abtippen von Dokumenten oder Ausdrucken von Rechnungen totaler Wahnsinn ist. Meiner Meinung nach ist der Begriff „Digitalisierung“ bei Weitem keiner, der beschreibt, was im Moment stattfindet. Digitalisierung ist der Trend, bei dem wir von analogen Technologien auf digitale umschwenken. Eigentlich haben wir auch schon fast alles digitalisiert – bis auf eben diese noch verbliebenen Brüche oder Schnittstellen. Dieses kostet Unternehmen enorm viel Produktivität und Geld. Natürlich spielen rechtliche Aspekte, wie konsequent sich die Gesetzgebung mit diesen Potenzialen auseinandersetzt, ebenfalls eine Rolle. Doch wir stehen immer stärker in einem globalen Wettbewerb um Effizienz und Qualität, sodass diesem Problem, das gerade beschrieben wurde, noch mal mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden wird.
Auch Nebentrends wie Blockchain-Technologien und künstliche Intelligenz werden zukünftig einen großen Einfluss darauf haben, wie wir Prozesse definieren und verstehen. Viele Routinen, die heute noch von Menschen bearbeitet werden, werden in naher Zukunft komplett von intelligenten IT-Systemen übernommen. Dies ist ein großer Umbruch, der für viele Menschen den Begriff Arbeit neu definieren wird. Ich spreche immer gern von 260 Wochen; also den kommenden fünf Jahren. Es sieht so aus, als würde dieser Umbruch in dieser Zeit in weiten Teilen unserer Wirtschaft vollzogen werden. Denn jetzt kommen diese verschiedenen Technologien zusammen – sie sind verfügbar, sie sind standardisiert und sie machen auf einmal in ihrer intelligenten Kombination Sinn. Sie nicht zu nutzen, kommt im Grund genommen einer Kapitulation gleich.
Also muss der Begriff des Arbeitens neu gedacht werden?
Ja, genau. Bis die Dampfmaschine erfunden wurde, dachten wir, dass Arbeit und Produktion durch die Knappheit von Muskeln beschränkt ist. Diese eine singuläre Innovation hat in den Folgejahrzehnten unsere gesamte Industrie und Gesellschaft verändert, weil auf einmal eben nicht mehr die Muskelkraft das bestimmende Element unserer Arbeit war, sondern unser Können, unser Wissen – und unsere Fähigkeit, mit der Mustererkennung unseres Gehirns zu lernen und Prozesse zu gestalten.
Bei Future Matters werten wir die künstliche Intelligenz als die neue Dampfmaschine unseres Jahrhunderts, weil wir jetzt komplett neu definieren, was die Inhalte produktiver Tätigkeiten sind. Und wir müssen uns einfach darauf einstellen, dass eine E-Mail zu lesen, sie zu verstehen und darauf zu antworten zukünftig keine Arbeit mehr sein wird. Selbiges gilt für die Frage der Wertschöpfung: „Bin ich bereit, jemandem 5.000 Euro im Monat zu bezahlen, dass er an einer Maschine sitzt und E-Mails liest, empfängt oder meine Rechnungen verbucht?“ Die Antwort darauf ist ganz klar: nein!
Nicht nur Corona, auch eine neue Mitarbeitergeneration hat das Denken über den Sinn der Arbeit verändert. Wie sehen Sie diese Entwicklung?
Eigentlich sind wir Menschen immer auf der Suche danach, unser Leben angenehmer, komfortabler oder weniger arbeits- und stressintensiv zu machen. Eigentlich ist das, was jetzt passiert, Teil einer ganz langen Kette der menschlichen Innovation. Wir sitzen derzeit aber oft nine to five am Schreibtisch, ohne unser Tun nur ansatzweise infrage zu stellen. Auf der anderen Seite sehen wir Leute, die sehr selbstbestimmt lernen, arbeiten, reisen und darüber nachdenken, wie, wann und wo sie arbeiten möchten. Und das alles, weil die Digitalisierung es möglich macht. Allein in den letzten 260 Wochen haben sich ganz neue Berufe und Tätigkeiten gebildet, für die es noch nicht mal Ausbildungsgänge gibt. Wir sollten einfach mal ein bisschen hinter die Kulissen schauen und uns fragen, was das möglich macht, was es bedeutet und was wir daraus lernen können.
Wir stehen kurz vor einem weiteren riesigen Umbruch, der für unsere Gesellschaft, Wirtschaft und Politik sicher nicht einfach werden wird. Für einige wird er gut sein, aber viele Leute werden auch versuchen, diesen Umbruch mit all ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen oder zu verzögern. Es ist unserer Entscheidung, ob wir mit Umbrüchen und Innovationen produktiv und wertstiftend umgehen oder darauf hoffen, dass alles bleibt, wie es immer war.