In den vergangenen Monaten haben uns virtuelles Teamwork und Remote-Meetings körperlich wie geistig herausgefordert. Nun sind wir im digitalen Zeitalter angekommen, sagt Personal-Brain-Coach und Speakerin Julia Kunz. Aus neurowissenschaftlicher Sicht ist dies aber nicht ganz einfach.
Anders gesagt: Digitalisierung bedeutet für unser Gehirn Stress pur. Statt Kuschelhormone wie Oxytocin auszuschütten, wenn wir uns vor einer analogen Besprechung per Handschlag begrüßen, sind im Zoom-Meeting die Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin angesagt. Statt im Small Talk die Atmosphäre auszuloten, versucht unser Gehirn, neben der Konzentration auf das Inhaltliche, virtuell alles und alle im Blick zu haben. Und das, obwohl wir am Bildschirm bestenfalls kleine Kacheln von einigen Anwesenden – und die auch nur zum Teil – sehen.
Home-Office und die Herausforderung für unser Gehirn
Zoom-Fatigue nennt sich das. Wir sind schnell müde, weil unser Gehirn zu viel Energie dafür verbraucht. Für eher introvertierte oder schüchterne Menschen ist es in Onlinemeetings zudem schwierig, sich zu Wort zu melden, weil die gesamte Aufmerksamkeit auf den Sprecher gerichtet ist.
Ein weiterer Stressfaktor für das Gehirn ist die Tatsache, dass wir im Home-Office meist nicht allein sind. Auch bei einer großzügigen Wohnsituation können wir unsere Konzentration niemals voll und ganz auf das fokussieren, was vor uns liegt. Unbewusst ist ein Teil unseres Gehirns immer in Alarmbereitschaft, um sofort auf volle Aufmerksamkeit umzuschalten, sollten beispielsweise unerwartete Geräusche aus dem Kinderzimmer kommen.
Gehirn 4.0 oder Generation Goldfisch?
Längst machen Stichworte wie „digitale Demenz” die Runde. Angeblich ist unsere Konzentrationsspanne geringer als die eines Goldfischs. Aber das Rad zurückdrehen möchte auch niemand. Was bleibt, ist die Frage: „Wie gehen wir am besten mit der Digitalisierung um, damit wir davon profitieren können?“
Digitalisierung bedeutet nichts anderes als die Umwandlung von analogen Werten in digitale Formate: Navi oder Kalender im Smartphone – das Leben ist bequemer geworden. Wir müssen uns nichts mehr merken, weil wir alles ständig dabei und griffbereit haben. Aber kann unser Gehirn, ein circa zwei Millionen Jahre altes, analoges Steinzeitgebilde, überhaupt mit der Digitalisierung zurechtkommen? Die Antwort lautet: ja. Es funktioniert aber nur dann gut, wenn wir erst unser Gehirn einschalten und dann die digitale Welt betreten.
Schwindende Merkfähigkeit
Das Wissen dieser Welt steht ständig und in unvorstellbarem Ausmaß zur Verfügung. Wir müssen einfach nur googeln. Während wir früher auf der Suche nach einer Antwort in Büchern nachgeschlagen haben, schauen wir jetzt kurz im Internet. Weil dieser ausgelagerte Teil unseres Gedächtnisses immer verfügbar ist, machen wir uns nicht mehr die Mühe, uns etwas zu merken. Doch das ist fatal.
Unser Gedächtnis arbeitet schließlich umso besser, je mehr wir es nutzen. Trotzdem schafft es nur ein Bruchteil unserer Eindrücke in unser Bewusstsein. Dann müssen noch viele Faktoren stimmen, damit wir Fakten langfristig abspeichern. Das sind neben dem richtigen Hormoncocktail und mäßigem Stress vor allem Interesse, vorhandenes Wissen sowie die richtige Dosis an Informationen.
Multitasking per Smartphone
Kennen Sie den Begriff „second screen“? Wenn wir fernsehen, haben viele auch ihr Smartphone in der Hand. Nehmen wir an einem Webmeeting teil, checken wir sehr wahrscheinlich ab und zu unsere E-Mails, Social-Media-Konten oder Statusnachrichten von Freunden. Das gibt uns das Gefühl, effizient zu sein. Für unser Gehirn heißt das aber nichts anderes als Multitasking. Und das funktioniert nicht. Wenn wir konzentriert und effizient arbeiten wollen, dann geht das nur an einer einzigen Aufgabe. Sobald eine andere dazukommt, sind wir nicht mehr aufmerksam bei der Sache.
Gehirn-Basics
Prinzipiell ist unser Gehirn extrem anpassungsfähig. Es kann grandiose Leistungen vollbringen, wenn es richtig genutzt wird. Wichtig dafür ist die Grundversorgung. Ausreichend Getränke über den Tag verteilt und eine ausgewogene Ernährung bilden die Basis für einen konzentrierten und fokussierten digitalen Alltag.
Ein wichtiger Faktor für die Leistungsfähigkeit unseres Gehirns ist auch unser Stresslevel. Mäßiger Stress macht uns konzentriert und aufmerksam. Wird der Stress hingegen zu viel, werden wir vergesslich und unkonzentriert. Sehr starker Stress über lange Zeit schädigt gar das Gehirn.
Wenn unser Gehirn gut funktioniert, schüttet es Botenstoffe und Hormone in den richtigen Maßen aus. Serotonin sorgt dafür, dass wir uns wohl fühlen und guter Stimmung sind. Wenn wir ins Tun kommen wollen, brauchen wir Dopamin. Glückshormone, sogenannte Opioide, folgen, wenn wir ein Ziel erreicht haben.
Ein Tipp für mehr Wohlbefinden
Nutzen wir einfach beides: die faszinierende digitale Welt und die Freude des analogen Lebens 1.0. Lassen wir unser Gehirn 4.0 das tun, was es am liebsten tut: arbeiten. Mit unseren fünf Sinnen, dem Abbau von Stress, positiven Hormonen und dem haptischen Erlebnis beim Blättern in einem Lexikon.
Julia Kunz, |