Die Bürowelt durchläuft einen grundlegenden Wandel. Zu ihm hat auch die Coworking-Bewegung beigetragen. Die Coworking-Branche verändert sich jedoch ebenfalls stark. Wir sprachen darüber mit Coworking-Pionier Ansgar Oberholz, Mitgründer und Geschäftsführer des legendären St. Oberholz.
OFFICE ROXX: Ansgar, mit dem St. Oberholz in Berlin-Mitte habt ihr 2005 den ersten Coworking Space in Deutschland eröffnet. Wie kam es dazu?
Ansgar Oberholz: Damals hatten wir vor allem uns selbst als Zielgruppe im Blick. Wir arbeiteten für das Jahr 2005 schon sehr ortsunabhängig und liebten es, mit einem Laptop bewaffnet an unterschiedlichen Orten sein zu dürfen. Ohne Smartphone wohlgemerkt, denn bis auf das Blackberry gab es so etwas zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Und Laptops waren noch teuer, schwer und der Akku hielt nicht lange. Wir haben uns mit dem Café am Rosenthaler Platz einen Ort erschaffen, an dem wir selbst auch gern arbeiten wollten. Ein Antrieb, den wir bis heute haben. Wir dachten allerdings nicht, dass es zu unserem Alleinstellungsmerkmal würde. Wir sind nach kurzer Zeit überrannt worden, von Gästen, die aus unserem Café ihr Büro machten. Aus dieser DNA heraus haben wir uns in den letzten Jahren immer entlang der Bedürfnisse unserer Nutzer weiterentwickelt. Menschen die Möglichkeit zu geben, so zu arbeiten, wie sie möchten, das treibt uns an.
Wie viele Standorte habt ihr heute?
Wir betreiben aktuell 15 Standorte in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. In der Metropolregion Berlin sind flexible, voll ausgestattete Büros und Working Cafés das wichtigste Produkt. In Frankfurt/Oder haben wir 2018 mit der Sparda Bank die erste Bankfiliale in einem Coworking Space konzipiert. In Mecklenburg eröffnen wir im Januar unseren ersten Retreat Campus, den wir gemeinsam mit unserem Partner Copro Projektentwicklung realisiert haben. Im ersten Workation Hotel in Deutschland kann man Arbeit und Erholung miteinander kombinieren, Team Offsites machen oder einfach nur sein und die wunderschöne Natur genießen.
Auf eurer Website findet man auch Angebote mit Namen wie St. Share, St. Flexible Office, St. Home und St. Consulting. Was verbirgt sich hinter diesen?
Wir beraten seit Jahren Unternehmen auf der transformativen Reise der sich verändernden Arbeitswelt. Im Moment steht bei den meisten Unternehmen die Frage im Mittelpunkt, wie man die Mitarbeitenden wieder sinnvoll in die Büros holt. Es geht um die Dezentralisierung der Strukturen für Leadership, Selbstführung und natürlich die Kultur im Ganzen in der Organisation. Employer Branding wird gerade wieder sehr wichtig im guten alten War for Talents.
Zu wie viel Prozent bietet ihr noch klassisches Coworking an, zu wie viel Prozent andere Services?
Das klassische Coworking im Sinne von individuellen Mitgliedschaften bieten wir nach wie vor an, aber den mit Abstand größten Teil unseres Umsatzes machen wir mit Bürolösungen für Start-ups und Unternehmen. Durch die Pandemie hat sich unsere Ausrichtung stark verändert. Wir sehen die Zukunft in der Flexibilisierung von Büroflächen. Coworking ist sicherlich relevant, aber kein Wachstumstreiber für uns. Working Cafés in Kombination mit Büros werden immer wichtig für uns sein. Neben klassischen flexiblen Büros organisieren wir auch Office-as-a-Service für große Start-ups und Unternehmen.
Die Pandemie hat die Coworking-Szene generell stark getroffen. Wie schätzt du die Auswirkungen für die Branche ein?
Ich teile die Entwicklung der ortsunabhängigen Arbeit in drei jüngere Epochen ein. Ab 2004 beginnt die Epoche der Avantgarde. Ortsunabhängige Arbeit ist nur recht wenigen Menschen vorbehalten. Der Begriff Digitale Bohème wird geprägt. Es wird vieles ausprobiert. 2012 startet die Epoche des Aufbruchs. Corporates drängen in Coworking Spaces, investieren in Start-ups. Sie bemerken, dass Innovation nicht mehr zwingend in konventionellen Strukturen stattfindet. Man will die gleiche Luft wie die Start-ups atmen, man ist auf der Suche, im Aufbruch. Große Organisationen eröffnen Innovation Hubs außerhalb der Konzernstruktur.
2019 begann dann kurz vor Covid die aktuelle Epoche der Adaption. Prinzipien des ortsunabhängigen, des selbstbestimmten Arbeitens, die bis dahin nur recht wenigen Menschen zugänglich waren, werden massenhaft in Strukturen vieler Unternehmen integriert, nicht mehr ausschließlich in den eigenen Büros. Längst ist der Kickertisch als sinnloses Symbol erkannt und es werden wirkungsvolle neue Strukturen entlang der Bedürfnisse der Mitarbeitenden erschaffen. Covid war der Turbolader für diese Entwicklung. Kein Unternehmen denkt im Moment nicht über die Umgestaltung seiner Büros nach. Viele sind schon mitten in der Umsetzung.
Wie erlebt ihr die aktuelle Epoche konkret bei euch?
Wir verzeichnen gerade eine extrem große Nachfrage von Unternehmen für unseren Retreat Campus in Mecklenburg-Vorpommern, der noch gar nicht eröffnet ist. Nach Team Offsites und Fokusarbeit in der Natur. Das ist der Beweis, dass es Bedarf gibt, Teams an ungewöhnlichen Orten temporär physikalisch zusammenzubringen. Kurz: Flexiblen Orten der Arbeit gehört die Zukunft.
Wie stark stehen Coworking Spaces nun auch in Konkurrenz mit dem Homeoffice?
Das Phänomen Homeoffice hat vielen Unternehmen und Mitarbeitenden bewiesen, dass Arbeit an jedem beliebigen Ort stattfinden kann. Diese Erkenntnis lässt sich nicht mehr ignorieren. Auf der anderen Seite ist Homeoffice nicht die Antwort auf alle Fragen der Entgrenzung der Arbeit. Homeoffice wird die Nutzung von Coworking Spaces eher intensivieren, da die Nutzer auch andere Orte als nur Büro und Wohnung benötigen und das Verständnis für den Mehrwert für aktivitätsbasiertes Arbeiten insgesamt gestiegen ist.
Viele Unternehmen machen ihre Büroflächen nun selbst zu Coworking Spaces – geschlossenen und offenen. Können reine Coworking-Anbieter da langfristig noch mithalten?
Der Coworking-Markt ist extrem fragmentiert. Für Corporates ist es kaum möglich, viele kleine Coworking Spaces in ihr Bestellsystem aufzunehmen. Wir haben in den letzten Jahren immer wieder gesehen, wie vor allem in zersplitterten Märkten Plattformunternehmen die Gatekeeper werden. Kaum ein Hotel kann heute ohne booking.com gute Auslastungen erzielen. Ich erwarte für den Coworking-Markt auch einen vergleichbaren Plattform-Economy-Effekt. Der Markt für flexible Büros hingegen wird meiner Meinung nach nicht so bald einen Gatekeeper erleben. Dafür sind die Warenkörbe zu groß und die individuellen Anforderungen an die Ausstattung zu komplex.

Das Prinzip Coworking, also die Zugänglichkeit zu gemeinsam genutzten Orten, aktiviert viele ungenutzte Potenziale. Abbildung: St. Oberholz
Warum scheint in Coworking Spaces eigentlich nicht die Arbeitsstättenverordnung zu gelten?
Das hat sich längst geändert. In unseren Büros gibt es keine Arbeitsplätze mehr, die nicht höhenverstellbare Tische und ergonomische Stühle hätten. Der Anspruch der Nutzer an diese Funktionen ist mittlerweile hoch.
Coworking auf dem Lande, Coworking mit Kinderbetreuung – was sind weitere aktuelle Trends?
Mit dem Prinzip Coworking, also Zugänglichkeit zu gemeinsam genutzten Orten, werden viele ungenutzte Potenziale aktiviert. Ich glaube an die Kraft des Möglichen. Wissensarbeit wird wie Wasser überallhin vordringen. Wenn man Arbeit aktivitätsbasiert, anlassbezogen denkt, dann wird man sie immer mehr an Orten antreffen, an denen wir sie heute noch gar nicht denken können. Die letzte Kombination, die mich überraschte, war Golf und Coworking.
Wird das Corporate Office überleben?
Das Büro wird für Unternehmen der wichtigste Platz für die Wissensarbeit bleiben. Aber die Büros werden sich grundlegend verändern. Arbeitnehmer benötigen neue Gründe, um in das Büro zu kommen. Ich bin erst letzte Woche durch Tausende Quadratmeter von leeren Büros gelaufen. Das Unternehmen hat längst verpflichtend drei Bürotage eingeführt, aber fast niemand kommt. Die Arbeitnehmer haben eine neue Macht erlangt. Die Unternehmen sind nun auf einmalige Art herausgefordert, gemeinsam mit den Teams die richtigen Fragen zu stellen und mutige Antworten zu finden. Es wird einiges schieflaufen und einiges gelingen. Es braucht Experimente. Dabei sollten Unternehmen darauf achten, nicht einem Eventisierungswahn zu verfallen, wie wir es teilweise schon erleben. Gute Büros, die gern von Mitarbeitenden genutzt werden, sind von sinnvollen flexiblen Funktionen geprägt, nicht von infantilem Schnickschnack.
Das Büro ist zwar nur noch ein Ort der Arbeit von vielen, es wird aber gerade im Mix mit dritten Orten und Homeoffice eine besondere Stellung behalten. Der Büroflächenbedarf in mittelguten Lagen wird in Metropolen zurückgehen. Die Auswirkungen der Entgrenzung der Arbeit auf die Städte, den ländlichen Raum, die Mobilität können wir im Moment nicht vorhersagen, aber wir sollten auf alles gefasst sein. Da kommt die größte Umwälzung seit der industriellen Revolution auf uns zu.
Vielen Dank.
Die Fragen stellte Robert Nehring.