Der im vergangenen Jahr verstorbene Sozialphilosoph und Kulturanthropologe Frithjof Bergmann prägte in den frühen 1980er-Jahren den Begriff „New Work“. Thorsten H. Bradts Vorstellung von neuer Arbeit ist davon inspiriert.
Bergmanns Forschung konzentrierte sich zunächst auf einen Gegenentwurf zum Kapitalismus mit dessen klassischen, durch eine tiefgreifende systemische und nicht allein ökonomische Abhängigkeit gekennzeichneten „Jobs“. Im Wesenskern zielten die von ihm dazu entwickelten Thesen darauf ab, die klassische Erwerbstätigkeit erheblich zu reduzieren – mindestens um 50 Prozent. „Neue Arbeit“ assoziierte er später mit den Werten Selbstständigkeit und Handlungsfreiheit der Einzelnen sowie mit deren Teilhabe an der Gemeinschaft. Besonders die „Knechtschaft der Lohnarbeit“ sollte für ihn ihr zeitnahes Ende finden und durch eine sinnstiftende, erfüllende und würdige Arbeit ersetzt werden.
New Work und Corona
Mit dem Beginn der Krise im vergangenen Jahr erfuhr dieser Ansatz, wenn auch unter ganz anderen Vorzeichen, eine Renaissance. Zum Beispiel wird das Homeoffice, eine Form von Remote Work, seitdem überall dort, wo es sich „den Umständen entsprechend“ zuverlässig verwirklichen lässt, alternativ zur Präsenzarbeit in Unternehmen praktiziert. Bemerkenswert ist die überwiegende Zustimmung sowohl von Arbeitgeber- als auch von Arbeitnehmerseite zu dieser naturgemäß inkonsistenten, weil durch unzählige Faktoren beeinflussten Tendenz.
Die Arbeit, die wir leisten, sollte nicht all unsere Kräfte aufzehren und uns erschöpfen.“
Frithjof Bergmann in „Neue Arbeit, neue Kultur“ (2004)
Erst mit dem objektiv gegebenen Erfordernis eines ortsunabhängigen Arbeitens, das gleichzeitig eine höhere Toleranz von flexibleren Arbeitszeiten bewirkte, entwickelte sich ein branchenübergreifendes und damit breites gesellschaftliches Erfahrungswissen zu den Möglichkeiten und Grenzen von Homeoffice. Dies gilt gleichsam für die technischen Anwendungskompetenzen der Beteiligten am virtuellen Arbeitsplatz. Unbestritten dürfte sein, dass insbesondere duale Konzepte zukünftig relevant bleiben werden.
Schöne neue hybride Arbeitswelt
Einhergehend mit der sich stetig beschleunigenden Digitalisierung, die sich parallel als Motor für die Adaptation von Unternehmensstrukturen bzw. -prozessen erweist, ergeben sich fortlaufend weitere technische Möglichkeiten zur Kollaboration sowie zum agilen Arbeiten. Überhaupt erfahren einschlägige Softwareprodukte gegenwärtig eine stark angetriebene Weiterentwicklung – und nicht zuletzt sind angesichts einer „reifenden“ künstlichen Intelligenz disruptive Technologien innerhalb sich deutlich verkürzender Zeitintervalle zu erwarten.
Die derzeitigen Bedarfe von Mitarbeitenden richten sich deshalb vornehmlich an einem der eigenen Selbstverwirklichung dienenden Ausgleich im Spannungsfeld zwischen Beruf und Familie bzw. Partnerschaft aus. Als durchgängig nachgeordnet, so aktuelle Marktforschungsergebnisse, wird demgegenüber der eigentliche Sinn der Arbeit empfunden.
Die BANI-Welt
Nicht ohne Grund also scheint sich im sogenannten Sensemaking derzeit das Modell einer BANI-Welt durchzusetzen. Eine Wortschöpfung, die sich aus den Anfangsbuchstaben der Attribute b:rittle (brüchig), a:nxious (ängstlich), n:on-linear (nicht-linear) sowie i:ncomprehensible (unbegreiflich) zusammensetzt. Diesbezüglich begünstigende Faktoren innerhalb der Arbeitswelt sind – unter anderen – eine fortschreitende Vernetzung auf unterschiedlichsten sozialen sowie individuellen Ebenen sowie daneben eine Automatisierung und eine „Auslagerung“ von Arbeit, das Outsourcing.
Viele Gesichtspunkte bei New Work
Wie bereits angedeutet, ist New Work durch ein mobiles Arbeiten, das orts- und mitunter auch zeitunabhängig stattfindet, gekennzeichnet. Nur auf den ersten Blick machen es Videokonferenzen oder eine cloudbasierte Zusammenarbeit aus. Zwangsläufig werden nämlich erhebliche Prozesse in Unternehmen, zum Beispiel innerhalb der Personalentwicklung, berührt. Und schließlich kann die gesamte Unternehmenskultur mit ihren Strukturen und Wertvorstellungen betroffen sein – ein Umstand, der Paradigmenwechsel unabdingbar machen kann.
[Die Arbeit] sollte uns stattdessen mehr Kraft und Energie verleihen, sie sollte uns bei unserer Entwicklung unterstützen, vollständigere, stärkere Menschen zu werden.“
Frithjof Bergmann in „Neue Arbeit, neue Kultur“ (2004)
Unerlässlich für New Work und damit für ein agiles Arbeiten ist die Fähigkeit zum vernetzten Denken und Handeln der Beteiligten. Dafür ist es notwendig, dass Werte und Ziele in einem Team umfassend geteilt werden. Ein gegenseitiges Vertrauen, eine entsprechende Anerkennung sowie eine Motivation von Teammitgliedern untereinander stellen sich ebenso als essenziell dar.
Soziale Utopie oder „wirkliche Wirklichkeit“?
New Work erscheint noch immer mehr als eine Idee, die nach Bergmann darauf basiert, was Menschen „wirklich, wirklich“ wollen, denn als Realität – trotz des aufgezeigten Entwicklungsschubs seit dem Frühjahr 2020. Doch sämtliche Zeichen der Zeit deuten auf nicht mehr umkehrbare und sich fortentwickelnde Veränderungen der Arbeitswelt hin. Freilich beeinflusst die Digitalisierung schon seit Langem etwa die Art des Konsums, der Informationsbeschaffung sowie der Kommunikation immens. Zumindest latent werden dadurch immer auch ethische Aspekte berührt.
Frithjof Bergmanns Welt
Die beeindruckende Vita Frithjof Bergmanns, die Stationen als Land-, Fließband- und Hafenarbeiter genauso umfasst wie eine langjährige Lehrtätigkeit als Professor für Philosophie und später auch für Kulturanthropologie an der Universität von Michigan, ferner noch freie Beratertätigkeiten für führende US-amerikanische Konzerne, belegt geradezu, dass er aus diesen unterschiedlichen Positionen heraus tiefe Einblicke in die „Natur des Menschen“ als sozialem Wesen zu gewinnen vermochte.
Auch deshalb dürfte er sich im Sinne der von ihm gewählten Profession dem „Streben nach Wahrheit und Weisheit“ verschrieben haben. Ein entscheidendes Moment darf deshalb nicht unbeachtet bleiben – für den großen Frei- und Vordenker stand nicht die Steigerung der Arbeitseffizienz, etwa im Sinne einer bloßen Optimierung von Kennzahlen, im Vordergrund. Technologisch bedingte Möglichkeiten müssten vielmehr der Achtung der Würde jedes einzelnen Menschen dienen, der durch sie in der Entfaltung seiner Persönlichkeit unterstützt und zum friedlichen Zusammenleben mit seinen Mitmenschen befähigt werden sollte.
Thorsten H. Bradt, Autor, Bildungsreferent für Kommunikation und agiles Arbeiten. |