Bereits seit den 1980er Jahren erlebt die Büroarbeit einen grundlegenden Wandel. Mit der zunehmenden Digitalisierung wachsen auch die zu meisternden Widersprüche. Dr. Martin Braun vom Fraunhofer IAO erläutert die Bedeutung der Gesundheit in diesem Zusammenhang.
Die Digitalisierung durchdringt das Büro als Ort der Wissensverarbeitung und -vernetzung schon seit Langem. Die technisch-organisatorischen Gestaltungsimpulse der vergangenen Jahrzehnte kommen heute in offenen Bürostrukturen mit ihren differenzierten Kommunikations-, Arbeits-, und Rückzugszonen zum Ausdruck. Eine ergonomische Arbeitsplatzausstattung soll attraktive Voraussetzungen für Wohlbefinden und Produktivität der Büroarbeiter schaffen. Was bedeutet eine „gesunde Büroarbeit 4.0“ in diesem Kontext?
Umbrüche durch digitale Transformation
In unseren Forschungskooperationen mit namhaften Wirtschaftsunternehmen zeichnen sich weitreichende Umbrüche im Zuge der Digitalisierung ab. Es sind vier Paradoxien zu erkennen:
- Beim Paradoxon des Lernens geht es einerseits darum, die Erfahrungen und mentalen Modelle der Vergangenheit zu wahren. Andererseits sind konventionelle Paradigmen und Optimierungslogiken bewusst zu brechen, um Chancenräume für Neues zu schaffen.
- Das Paradoxon der Leistungserbringung bezieht sich auf die Gleichzeitigkeit von Exploration (d. h. zeitgebundenes Lernen) und Exploitation (d. h. schnell sichtbare Erfolge). Strategien der Innovation und der Verwertung sind gleichermaßen zu verfolgen.
- Das Paradoxon der Zusammenarbeit ergibt sich durch eine mehrfache Einbindung von Mitarbeitern, die gleichzeitig unterschiedlichen Projektteams angehören. Damit sind Spannungen zwischen gruppen- und organisationsbezogenen Zielen, Werthaltungen und Kulturelementen auszugleichen.
- Das Paradoxon des Organisierens tritt auf, wenn betriebliche Handlungen sowohl Commitment (etwa bei Dezentralisierung) als auch Kontrolle (Zentralisierung) erfordern, und wenn Stabilität (bzw. Identität) und Veränderung (bzw. Fortschritt) der Belegschaften auszubalancieren sind.
Wissensarbeiter sind mehr denn je gefordert, widersprüchlich erscheinende Handlungen und Praktiken parallel zu verfolgen und dynamisch auszugleichen. Die Arbeitsforschung verweist auf das selbstregulative Potenzial des gesunden Menschen. Es befähigt ihn, widersprüchliche Lebenseinflüsse zu integrieren. Maschinelle Algorithmen werden hingegen auf absehbare Zeit nicht in der Lage sein, derart bedeutsame Operationen zu beherrschen.
Die Fähigkeit zur Selbstregulation stärken
Gesunde Arbeit bedeutet folglich nicht, dass keine belastenden Faktoren (etwa psycho-soziale Störungen) auftreten würden. Als Urphänomen des Lebendigen bezeichnet Gesundheit vielmehr die selbstregulative Fähigkeit des Menschen, Krankheiten verursachende Faktoren hinreichend wirksam zu kontrollieren. Diese individuelle Fähigkeit wird durch eine Reihe sozialer und organisationaler Ressourcen gestärkt.
Viele Unternehmen haben die Herausforderung inhärent widersprüchlicher Arbeitssysteme in der „Arbeitswelt 4.0“ noch gar nicht erkannt. Unabhängig davon gewinnt die Gesundheitsdiskussion eine neue Richtung, indem sie die unabdingbare Rolle des urteilsfähigen Menschen zur Ordnung komplexer Arbeitssysteme betont. So paradox es erscheint: Ausgerechnet die Digitalisierung hält uns an, unseren Blick auf die unabdingbaren Fähigkeiten und Bedürfnisse des arbeitenden Menschen zu schärfen.
Dr. Martin Braun,
Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO. martin.braun@iao.fraunhofer.de |
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