In seinem Buch „Notizzettel“ geht der Medienwissenschaftler Hektor Haarkötter der Praxis des Notierens auf den Grund. Dabei erkundet er die Strukturen unseres Denkens. Von Paul Svihalek.
Auch im Zeitalter von Smartphone und Cloud sieht man an vielen Monitoren noch Notizzettel kleben. Ihre Verfasser befinden sich damit in bester Gesellschaft. Mit niemand Geringerem als Leonardo da Vinci ist der Notizzettel zum Beispiel in die Welt gekommen. So sieht es zumindest der Medienwissenschaftler Hektor Haarkötter. Das Renaissance-Genie da Vinci hinterließ ein Konvolut von über 10.000 handgeschriebenen Zetteln. Da Vincis Geburt fällt wie die Entstehung des Notizzettels mit der Erfindung des Buchdrucks zusammen. Wie Haarkötter in seinem neuen Buch darlegt, macht es erst ab diesem Zeitpunkt Sinn, das Handgeschriebene als privates Protomedium von gedruckten, für die Öffentlichkeit bestimmten Medien zu unterscheiden.
Schreiben ohne Empfänger
Neben da Vinci ist es vor allem die Notizpraxis des 500 Jahre später lebenden Sprachphilosophen Ludwig Wittgenstein, dem der Buchautor sich widmet. 30.000 Zettel bilden den Nachlass dieser Geistesgröße. Eine Gemeinsamkeit verbindet Wittgenstein und da Vinci: Sie verschlüsseln viele ihrer Aufzeichnungen. Haarkötter sieht dies als gesteigerten Ausdruck dafür, dass Zettel und Notizbücher stets private Medien in einer privaten Sprache sind. Einer Codierung bedürfe es dafür aber gar nicht. Er nennt dies Kommunikant ohne Kommunikat: Indem ich notiere, erzeuge ich etwas, was aussieht wie ein Stückchen Kommunikation. Es kommuniziert jedoch mit niemandem.
Strukturen des Denkens
Stattdessen ist die Funktion der Zettel eine andere. Beim handschriftlichen Notieren ist unser Denken ganz bei sich. Denn dieses funktioniert ebenfalls übereinandergeschichtet, verschränkt und unabgeschlossen. Der Zettel ist daher das idealtypische Medium für unseren Geist. Durch Notizen wird unser Denkapparat externalisiert und erweitert. So können wir mit Abstand und neuer Perspektive auf unsere Gedanken blicken. Erstaunlich ist, dass Notizen laut Haarkötter weniger dem Erinnern dienen als vielmehr dem Vergessen. Indem sie geistigen Raum für neue Ressourcen schaffen, fördern sie unsere Kreativität. Sie dienen dem schöpferischen Chaos und sogar einem konstruktiven Verlust des Überblicks.
Hier findet sich die vielleicht einzige Schwäche von Haarkötters bemerkenswertem Buch: Der Autor scheint der Unordnung und dem Verlust des Überblicks etwas zu positiv gegenüber eingestellt zu sein. Da Vinci hat aufgrund dieser Umstände nie sein Vorhaben verwirklichen können, ein Buch zu realisieren. Wittgensteins stets neu überschichtendes Notieren sei Ursache dafür gewesen, dass dieser nach seinem 60-seitigen-Traktat nichts mehr veröffentlichte. Die Risiken des „Verzettelns“ wirken bei Haarkötter etwas verharmlost. Man wünschte, er hätte die Vorzüge eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen überlagertem und linearem Schreiben, offener und abgeschlossener Form beleuchtet. Denn in der Lage zu sein, die eigenen Notizen zu einem abgeschlossenen Werk zusammenzuführen, wie es ihm selbst mit seinem 592-seitigen Buch grandios gelungen ist, kann letztlich nur von Vorteil sein.
Notiz und Netz
Wie verhält es sich nun mit der Notiz im digitalen Zeitalter? Das Internet mit seiner Hypertextstruktur sieht Haarkötter zwar als gigantische Skalierung eines Zettelkastens, dem digitalen Notieren steht er jedoch recht skeptisch gegenüber. So werde gegenwärtig mehr denn je auf Zettel und in Hefte gekritzelt, weil wir die Verfügung über unser Innerstes nicht ans Silicon Valley abgeben wollen. Zudem brauche der Zettel keine Steckdose, er sei immer lesbar und seine Zukunft damit gesichert. Sollte es ihm doch mal an den Kragen gehen, dann nur, weil ein weiterer Vorteil des Mediums zum Tragen komme: Handgeschriebenes lasse sich ohne Datenspuren vernichten. So habe etwa Facebook-Chef Mark Zuckerberg seine Pläne in zahlreiche Notizbücher notiert. Im Zuge eines Gerichtsverfahrens warf er sie dann einfach ins Feuer.