Wie sich das Mittelmaß aus den Büros vertreiben lässt und warum dies auch erstrebenswert ist, erläutern Prof. Jan Teunen und Dr. Christoph Quarch in ihrem kürzlich veröffentlichten Manifest „Adieu Tristesse“. Wir veröffentlichen ihre Thesen.
Es war einmal eine Zeit, da strebten die Menschen nach Größe. Sie wollten große Menschen sein, die große Taten verrichten und große Werke vollbringen. Sie wollten ihr Bestes geben, um die Besten zu sein. Auf diese Weise meinten sie, ihre Götter zu ehren. Nicht dass sie selbst hätten Götter sein wollen – das lag ihnen fern. Die Götter waren ihnen Maß und Maßstab. An ihnen nahmen sie Maß, um das Beste aus sich herauszuholen und ihr menschliches Potenzial zu entfalten. Es war einmal eine Zeit, da strebten die Menschen danach, große, blühende und schöne Menschen zu sein. Es war eine Zeit der Kreativität, der Innovation, der Begeisterung, des Unternehmergeistes. In dieser Zeit erblühte die Kultur. Und mit der Kultur erblühten die Menschen. Davon haben wir uns weit entfernt.
Das Problem
In der Arbeitswelt von heute herrscht die Mittelmäßigkeit. Sie herrscht in vielen Unternehmen und hindert sie daran, ihre Potenziale zu entfalten und zu ihrer vollen Kraft und Schönheit zu erblühen. Stattdessen erstarren sie in Konvention und Funktionalität. Man geht gewohnte Wege, aber scheut Innovation und Transformation. Man tut, was andere auch tun und hat Angst vor dem Besonderen bzw. Individuellen. Ohne Leidenschaft und ohne Begeisterung bescheidet man sich damit, frühere Erfolge zu verwalten. Man hat keine Visionen und Werte mehr, an denen man Maß nehmen könnte. Und so verbreitet sich die Mittelmäßigkeit immer mehr und immer weiter.
Mittelmäßigkeit ist eine Not, die gewendet werden muss. Für Unternehmen ist es notwendig, die Mittelmäßigkeit aus ihren Räumen zu vertreiben. Verzichten sie darauf, werden sie über kurz oder lang wirtschaftlichen Schaden nehmen.
Die Mittelmäßigkeit beginnt in den Köpfen der Entscheider. Sodann erfasst sie ihre Herzen und lähmt am Ende ihre Hände. Dann legt sie sich wie Mehltau auf die ganze Organisation.
Mittelmäßigkeit herrscht immer dann, wenn kein Geist im Unternehmen weht – wenn in ihm keine Visionen oder Werte walten, an denen sich die Mitarbeiter begeistern. Wenn kein Geist im Unternehmen weht, gibt es nichts, woran sie Maß nehmen könnten – nichts, woran sie sich zu messen wüssten.
Sicht- und spürbar wird die Dominanz der Mittelmäßigkeit von Unternehmen in der Arbeitsumgebung, die sie sich erschaffen. Unübersehbar wuchert sie in zahlreichen Bürogebäuden.
Büros sind mittelmäßig, wenn sie denen, die in ihnen arbeiten, nichts zu sagen haben. Sie sind stumm, weil sie die Menschen nicht ansprechen. Anspruchslose Räume sind Toträume. Sie vermögen niemanden zu begeistern.
Büroräume sind mittelmäßig, wenn kein Geist in ihnen weht. Das ist immer dann der Fall, wenn sie nur nach funktionalen Nützlichkeitserwägungen eingerichtet werden. Dazu kommt es, wenn Unternehmen nicht mehr geführt, sondern nur noch verwaltet werden.
Mittelmäßige Räume sind wirkungslos. Sie erzeugen kein motivierendes Umfeld. Sie stimulieren keine Kreativität. Sie mögen bequem und funktional sein, aber in ihnen kann sich niemand zur Größe entfalten und sein Bestes geben. Anders ist es, wenn Räume ein Umfeld erzeugen, das auf Menschen antwortet und dem Menschen Antwort gibt. Solche Räume sind Begeisterungsräume, aus denen die Mittelmäßigkeit verbannt ist.
Mittelmäßige Räume lähmen das Miteinander. Sie sind dafür gemacht, dass Menschen im Räderwerk des Unternehmens funktionieren, aber sie unterstützen nicht ihre Begegnung und Interaktion. Begeisternde Räume hingegen sind kommunikative Räume. Sie führen Menschen zusammen und stimulieren sie zur Ko-Kreation, aus der neue Begeisterung und somit Energie erwächst.
In mittelmäßigen Büros wird man nichts anderes erwarten können als mittelmäßige Mitarbeiter, die mittelmäßige Arbeit verrichten. Wenn laut Gallup Engagement Index von 2019 fast sechs Millionen Werktätige in Deutschland (16 Prozent) ihren Job innerlich gekündigt haben und nur 15 Prozent der Arbeitnehmer eine hohe emotionale Bindung an ihre Company haben, ist das auch – und zwar in erheblichem Maße – die Folge einer mittelmäßigen Arbeitsumgebung.
Die Ursachen
Mittelmäßigkeit ist ein Symptom. Und Symptome haben Ursachen. Diese Ursachen muss verstehen, wer die Mittelmäßigkeit in Büros erfolgreich beseitigen möchte. Sie muss durchschauen, wer die Kultur des Unternehmens dahingehend transformieren möchte, dass die Menschen begeistert miteinander und für das Unternehmen arbeiten.
Mittelmäßigkeit ist das Resultat eines unzureichenden Denkens von Entscheidern, denen es an verbindlichen Kriterien für Qualität und Exzellenz mangelt. Wer nicht weiß, woran er Maß nehmen soll, wird über kurz oder lang mittelmäßig.
Viele Entscheider sind heute gefangen in einer informierten Unwissenheit. Sie verfügen über Sachkenntnis und Expertise, lassen aber den klaren Blick für das Ganze vermissen, den man von alters her Weisheit nennt. Sie verfügen über ein breites Arsenal von Tools und Methoden, haben aber in Ermangelung einer Vision und verbindlicher Werte oft keine Idee davon, wie sie ihr Wissen sinnvoll anwenden können.
Handlungsleitend für die meisten Entscheider ist allein die ökonomische Rationalität. Deren maßgebliche Werte sind Profitabilität, Produktivität, Effizienz und Funktionalität. Diese Kriterien bilden die Komplexität eines Unternehmens aber nur unzureichend ab. Wo Büroräume allein nach diesen Kriterien eingerichtet werden, herrscht Mittelmäßigkeit.
Viele Entscheider haben ein unzureichendes Menschenbild. Sie verkennen, dass Menschen mehrdimensionale Wesen sind, denen gegenüber man sich nur dann angemessen verhält, wenn man sie im ganzen Spektrum ihres Menschseins ernst nimmt:
- Menschen sind leibliche Wesen, die ein Arbeitsumfeld benötigen, das ihren physischen Bedürfnissen und Befindlichkeiten genügt.
- Menschen sind rationale Wesen, die ein funktionales Arbeitsumfeld benötigen, das es ihnen erlaubt, ihre Aufgaben zu erfüllen und ihre Ziele zu erreichen.
- Menschen sind darüber hinaus aber auch seelische bzw. emotionale und soziale Wesen, die Räume benötigen, in denen funktionale und poetische Qualitäten so verbunden sind, dass sie menschliche Nähe und Begegnung fördern.
- Und Menschen sind geistige Wesen, die immer dann zur Hochform auflaufen, wenn sie begeistert sind.
Viele Büros sind mittelmäßig, weil sie den Reichtum des Menschseins unterbieten und lediglich Kriterien der Ergonomie und der funktionalen Rationalität folgen, dabei aber die seelischen und geistigen Aspekte des Menschen ignorieren. Anders ist es bei Büros, die der Komplexität des Menschseins angemessen sind. Sie bieten denen, die in ihnen arbeiten, Bedingungen, die sie physisch, funktional, seelisch und geistig unterstützen. Sie sind Orte menschlicher Potenzialentfaltung: Räume, in denen Menschen ihr Bestes zu geben imstande sind.
Mittelmäßige Büros lassen die Sinnsuche des Menschen unbeantwortet. Der Psychiater und Psychologe Viktor E. Frankl schreibt mit gutem Grund: „Der Wille zum Sinn bestimmt unser Leben! Wer Menschen motivieren will und Leistung fordert, muss Sinnmöglichkeiten bieten.“ Bleiben Sinnmöglichkeiten aus, führt das zu beunruhigenden Konsequenzen – von innerer Kündigung bis zur Depression.
Der moderne Mensch hat sich von der Natur gelöst. Das ist nicht nur die Ursache für die mannigfaltigen ökologischen Krisen der Gegenwart, sondern auch ein weiterer Grund für zahlreiche physiologische und psychologische Erkrankungen in der Arbeitswelt. In naturfernen Büros kann niemand seine Potenziale entfalten.
Eine problematische Rolle bei der Büroeinrichtung und -gestaltung spielen in erheblichem Maße Möbelproduzenten und Möbelhändler. Zumeist agieren sie ausschließlich produkt- und marktorientiert und achten wenig auf die sozialen und humanen Aspekte der Büroarbeit. Fast immer fehlt es ihnen an einem zureichenden Menschenbild. So versäumen sie es, Büros als Kulturräume zu gestalten, und beschränken sich darauf, Büros als Bauteile im Gefüge eines möglichst funktionalen, effizienten und produktiven Apparates zu konzipieren. Bei solchen Büroeinrichtern wird zwar viel vor- und nachgedacht, aber es wird zu wenig zu Ende gedacht. So schleicht sich das Mittelmaß in den Büroalltag.
Exzellente Büros entstehen nicht auf dem Wege von ausgehandelten Mehrheitsentscheidungen oder Kompromissen. Sie entstehen, wenn exzellente Entscheider exzellente Entscheidungen treffen. Exzellente Entscheider zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass sie über ein sicheres ästhetisches Urteilsvermögen verfügen. Wer sich beim Kauf einer Teekanne nicht zwischen drei Modellen entscheiden kann, taugt auch nicht als Entscheider über Büroeinrichtungen. Wo es an ästhetischer Urteilskraft fehlt, ist man gut beraten, die Bürogestaltung einem kompetenten Berater bzw. Kurator anzuvertrauen.
Die Ziele
Das Gegenteil von mittelmäßigen Büros sind exzellente Büros. Exzellente Büros sind Gewächshäuser, in denen Menschen optimale Bedingungen vorfinden, um zu individueller Größe zu reifen und Großes für ihr Unternehmen zu leisten.
Exzellente Büros sind ausgestattet mit einer Dingwelt, die funktional und poetisch zugleich ist, sodass sie den Bedürfnissen von Leib, Ratio, Seele und Geist Genüge tut: eine stimmige physische Ergonomie für den Leib, eine funktionale Infrastruktur für die Ratio, Schönheit für die Seele und Inspiration für den Geist. Sie bieten ein Ambiente, in dem der Mensch wachsen, blühen und gedeihen, Frucht tragen und reifen kann.
Exzellente Büros sind Orte der Lebendigkeit. Sie manifestieren die Weisheit des Philosophen Martin Buber, der einst sagte: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“ – und der wusste, dass Lebendigkeit und Begeisterung nirgends so kraftvoll aufkeimen wie im Raum des Zwischenmenschlichen. Exzellente Büros sind Begegnungsräume bzw. Conversational Spaces.
Exzellente Büros sind Freiräume und Spielräume. Sie geben den Menschen, die in ihnen arbeiten, die Möglichkeit, ihre individuelle Persönlichkeit in ihnen zu spiegeln und auf diese Weise weiterzuentwickeln. So werden sie zu einem heimatlichen Ort, der Menschen stärkt und kräftigt – an dem sie Wurzeln schlagen und wachsen können. Exzellente Büros sind Energizing Spaces – Energetisierungsräume.
Wo Büros offene Räume lebendiger Begegnung und individueller Freiheit sind, werden sie zu Brutstätten der Kreativität. Aus der Innovationsforschung ist bekannt, dass Menschen dann am schöpferischsten sind, wenn sie in nichtfunktionalen Räumen frei und spielerisch miteinander interagieren. Exzellente Büros sind Enabling Spaces – Ermöglichungsräume.
In der neunten seiner Duineser Elegien schreibt der Dichter Rainer Maria Rilke: „Erde, ist es nicht dies, was du willst: unsichtbar in uns erstehn? – Ist es dein Traum nicht, einmal unsichtbar zu sein?“ Mit diesen Worten ermutigt uns Rilke, die Welt durch Poesie und Kunst, Gestaltung und Kultur in eine zweite, humane Natur zu transformieren – ihre natürliche Schönheit in poetische Schönheit zu verwandeln. Exzellente Büros sind eine zweite, poetische Natur. Sie sind Kulturräume oder Cultural Spaces.
Schönheit ist für Einrichtung und Ausgestaltung von Büros kein Nice-to-have, sondern ein Must-be. Sie ist ein Grundnahrungsmittel der menschlichen Seele und des Geistes. Schönheit ist nicht nur die Qualität der äußeren Erscheinung von Dingen, sondern auch der in ihnen manifestierten Idee. In einem ganzheitlichen Verständnis sind Produkte erst dann schön, wenn sie meisterlich produziert, fair gehandelt und nachhaltig verwendbar sind. Wenn der große russische Romancier Fjodor Dostojewski sagte: „Schönheit wird die Welt retten.“, dann lässt sich dieser Satz umstandslos auf Unternehmen übertragen – Schönheit wird die Unternehmen retten. Deshalb sind exzellente Büros schön.
Schöne Räume bieten ein ansprechendes Umfeld, das auf die Sinnsuche des Menschen Antwort gibt. Durch eine anspruchsvolle poetische bzw. künstlerische Gestaltung öffnen sie einen Raum, in dem ein guter Geist weht, der Menschen zu begeistern vermag. Exzellente Büros sind Begeisterungsräume – Inspiring Spaces.
Exzellente Büros sind Healing Environments: Sie bieten ein gesundes Umfeld, weil sie die Prinzipien des natürlichen Lebens achten und respektieren. Kulturell aufgeladene Büroräume entsprechen dem tiefen Bedürfnis des Menschen nach dem Schönen und Spielerischen sowie nach Muße und Entschleunigung. Alle diese Funktionen von Kultur enthalten, so sagt der Natur- und Kulturheilkundige Prof. Dr. Hartmut Schröder, ein großes Potenzial für Heilung und Gesundheit.
Schöne, durch Kunst und Poesie energetisierte Räume bleiben nicht wirkungslos auf die in ihnen tätigen Menschen. Durch Resonanz versetzen sie die Menschen in eine gute Stimmung, sodass sie gut gestimmt der Welt begegnen können.
Die Transformation
Wer einen großen Sprung in die Zukunft tun will, muss weit in die Vergangenheit zurückgehen, um Schwung zu holen. Erfolgreiche Zukunftsgestaltung erfordert ein langes Gedächtnis.
Nach Ansicht des Philosophen Giambattista Vico beginnt die menschliche Zivilisation mit der Lichtung: einem offenen Bereich inmitten unendlicher Wälder. Hier wird der Mensch zum Menschen: aufgerichtet zwischen Himmel und Erde, unterwegs zwischen Sichtbarkeit und Verborgenheit. Menschsein bedeutet seither: verwurzelt sein in der uns tragenden Natur, ausgerichtet sein zum uns überwölbenden Geist, im offenen Raum des Wissens und Verstehens, umgeben vom Dickicht des Unbekannten oder Ungeahnten. In diesem Geviert bewegt der Mensch sich auch heute noch. Das Büro als Lebensraum des Menschen muss dem Rechnung tragen.
Auf der Lichtung baut der Mensch ein Haus. Das Haus gewährt ihm Schutz und Geselligkeit. Es ist ihm Heimat und Kulturraum. Und es ist der Ort, an dem er seinen Lebensunterhalt erwirtschaftet. Diese fünf Aspekte sind die Grundfunktionen eines Hauses. Um sie sicherzustellen, gibt der Mensch seinem Haus eine Regel. Haus heißt auf Griechisch οἴκος (oíkos), Regel heißt νόμος (nómos). Aus beiden Worten zusammengesetzt entsteht das Wort οἰκονομία: Oikonomía, was wir mit Wirtschaft übersetzen. Die fünf Grundfunktionen des Hauses – Schutz, Geselligkeit, Identitätsstiftung, Kultur, Wirtschaftlichkeit – müssen auch heute noch von einem exzellenten Haus des Wirtschaftens erfüllt werden.
Kaum dass die antiken Griechen das Wort Oikonomía erfunden hatten, machten sie sich auch schon Gedanken darüber, woran Maß nehmen solle, wer eine Oikonomía betreibt: an welchen Kriterien sich bemisst, ob ein Oíkos, ein Unternehmen, exzellent ist oder nicht. Der erste Denker, der sich dazu äußerte, war Aristoteles. Er gibt die Mehrheitsmeinung seiner Kultur wieder, wenn er sagt, der Sinn des Wirtschaftens liege darin, den Bewohnern bzw. Angehörigen eines Hauses nachhaltig und dauerhaft ein gutes Leben zu ermöglichen. Diese Maßgabe gilt auch für das Büro des 21. Jahrhunderts.
Am konsequentesten umgesetzt wurde die auf Aristoteles zurückgehende antike Ökonomik von den benediktinischen Klöstern des Mittelalters. Sie waren florierende Unternehmen, deren Erfolg sich ausschließlich daran bemaß, für ihre Bewohner ein verlässlicher Ort des guten Lebens zu sein. Ziel des Wirtschaftens waren Autarkie und Ressourcensicherheit. Sie standen im Dienst des physischen und spirituellen Wohlergehens der Mönche oder Nonnen. Im Wechsel von Creatio und Recreatio bzw. Ora und Labora führten sie ein harmonisches Leben im stimmigen Einklang mit der Natur. Daran kann sich das Büro der Gegenwart ein Beispiel nehmen.
Das mittelalterliche Kloster wurde zum Ursprungsort des Büros. Um ihre kostbaren Bücher zu schonen, spannten die Mönche ein Filztuch aus dem Stoff ihrer Umhänge über die roh gezimmerten Tische ihrer Skriptorien. Erst übernahmen die Tische, dann die Schreibstuben den Namen dieses Tuches: Burra. Hier wird die Idee des Büros sichtbar: Es hat die Aufgabe, das Kostbarste zu schützen. Im mittelalterlichen Kloster waren das die Bücher, heute sind es die Menschen.
Mit der Renaissance des 15. und 16. Jahrhunderts ändert sich das Selbstbild des Menschen. Er löst sich aus den Fesseln der Religion und sieht sich fortan als Künstler seines eigenen Lebens. Nun gilt es, die eigene Zukunft selbstständig zu gestalten. So entstehen ein neuer Unternehmertyp und eine neue Leitmetapher für die Wirtschaft: der Entrepreneur, der Kapital aufnimmt und in die Zukunft investiert. Seine Welt ist nicht mehr das Haus und sein Ziel nicht mehr dessen nachhaltiger Bestand zum Wohle der Bewohner. Seine Welt ist das Schiff, mit dem er in die See der Zukunft sticht, um reich beladen wieder heimzukehren. Das Büro verwandelt sich damit zu einem Ort des Planens und Berechnens. Das ist es heute noch.
Im Zeitalter der Industrialisierung wird die ökonomische Leitmetapher des Schiffs durch den Apparat ersetzt. Nun denkt man ein Unternehmen nach Maßgabe einer mechanischen Maschine, die eine auszubeutende Ressource durch einen wertschöpfenden Prozess verarbeitet, um am Ende einen großen Ertrag zu erzielen. Der Unternehmer sieht sich fortan als ein Ingenieur, der immer neue Maschinen baut und sie von Managern warten und perfektionieren lässt. Das Büro gerät dabei zu einem Bauteil oder Modul inmitten eines großen Apparates. Nun schlägt die Stunde der neuen Werte, an denen sich bis heute die Büroarbeit misst: Funktionalität, Effizienz, Produktivität, Profitabilität.
Heute stehen wir an einer weiteren Epochenschwelle. Das Zeitalter analoger Maschinen klingt aus, das Zeitalter digitaler Maschinen hebt an. Damit verändert sich die Büroarbeit grundlegend. Das Büro verwandelt sich mehr und mehr zu einer Applikation in einem von Algorithmen getriebenen Supercomputer. Planen, Rechnen, Verwalten, Ordnen, Sortieren – alle diese Aufgaben werden künftig nicht mehr von Menschen, sondern von Künstlichen Intelligenzen verrichtet. Die menschliche Büroarbeit wird dadurch entweder obsolet oder sie verwandelt sich zu einer schöpferischen Tätigkeit. Welchen Weg ein Unternehmen einschlägt, wird sich daran entscheiden, ob es am Leitbild der auf Ertragsmaximierung optimierten Maschine festhält oder einen Paradigmenwechsel wagt. Wählt es den erstgenannten Weg, wird es mittelfristig zu einem effizienten Totraum. Wählt es den weniger konventionellen Weg, verwandelt es sich zu einem Ort im Dienst des Lebens. Der US-amerikanische Dichter Robert Frost schreibt in dem Gedicht The Road Not Taken: “Two roads diverged in a wood, and I— I took the one less travelled by, And that has made all the difference.” („Im Wald, da war ein Weg, der Weg lief auseinander, und ich – ich schlug den einen ein, den weniger begangen, und dieses war der ganze Unterschied“, Übersetzung von Paul Celan). Der Weg in die Zukunft des Büros wird bislang nur selten begangen.
Die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zwingen zu einer Transformation des wirtschaftlichen Denkens. Die Leitmetapher der Maschine ist weder in ihrer analogen Version als mechanischer Apparat noch in ihrer digitalen Fassung als Supercomputer zukunftsfähig. So oder so werden nach ihrer Maßgabe geführte Unternehmen in Funktionalität ersticken und das Kostbarste vernachlässigen: den lebendigen, schöpferischen Menschen aus Fleisch und Blut, aus Leib und Seele. Ihn in allen Dimensionen seines Daseins bei der Entfaltung seiner Potenziale zu unterstützen und zu nähren, ist der wichtigste Purpose, dem künftige Unternehmen dienen werden. Folgen sie ihm, verwandeln sie sich aus toten Maschinen zu lebendigen Gärten. Sie werden zu Orten, die all das vereinen, was die Exzellenz von Arbeitsräumen ausmacht. Sie werden zu Begegnungsräumen, Energetisierungsräumen, Ermöglichungsräumen, Begeisterungsräumen, Kulturräumen und heilenden Räumen.
Die Lösung
Der Weg aus der Mittelmäßigkeit führt durch die Büros. Sie gilt es, zu Keimzellen der Kreativität und Innovation zu machen: zu Gewächshäusern für menschliches und ökonomisches Wachstum.
Exzellente Arbeit gedeiht in exzellenten Räumen. Exzellent sind Räume dann, wenn sie den systemischen Grundprinzipien des Lebens genügen:
- Stimmige Interaktion innerhalb der Organisation
- Stimmige Interaktion zwischen der Organisation und ihrer Umgebung
- Freie Entfaltung individueller Potenziale der Einzelnen
- Freie Entfaltung der Organisation im Ganzen
Jedes Ökosystem lebt von der stimmigen Kooperation und Interaktion der ihm zugehörigen Wesen. Für seine Entfaltung braucht es Räume, die sie darin unterstützen. Das gilt auch für das System eines Unternehmens. Es lebt von der stimmigen Kooperation und Interaktion seiner Mitarbeiter. Ihr den erforderlichen Raum zu geben, ist eine der wichtigsten Führungsaufgaben: Ein kraftvoller, begeisternder und lebendiger Umgang der Mitarbeiter braucht eine kräftigende, begeisternde und lebendige Umgebung. Eine in sich stimmige räumliche Umgebung begünstigt eine in sich stimmige Kooperation und Interaktion der Menschen. Eine gute Stimmung im Unternehmen fördert sowohl das menschliche als auch das wirtschaftliche Wachstum.
Wenn Menschen in ihrem Arbeitsumfeld gut gestimmt sind, werden sie auch gut gestimmt auf die Welt zugehen. Gut gestimmte Menschen sind bereit, sich mit anderen abzustimmen. Dafür müssen sie mit ihnen nicht in allen Punkten übereinstimmen, aber doch willens sein, sich auf sie einzustimmen. Diese Bereitschaft ist in einer globalisierten Welt von größter Wichtigkeit. Gut gestimmte Menschen haben das Potenzial, die Globalisierung der Wirtschaft durch eine Globalität des Denkens zu flankieren. Sie tragen zur Ausbildung eines planetarischen Bewusstseins bei und werden sich dafür einsetzen, den Wohlstand besser zu verteilen, die ökologischen Ressourcen zu schonen und für künftige Generationen eine lebenswerte Welt zu hinterlassen. Wer exzellente Arbeitsräume schafft, genügt auf diese Weise seiner gesellschaftlichen Verantwortung.
Menschliche Potenzialentfaltung braucht Freiräume. Freiräume zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine stimmige Balance zwischen Ordnung und Chaos wahren. Nicht zufällig sagte Friedrich Nietzsche: „Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern zu gebären.“ Wer sich Mitarbeiter wünscht, die tanzende Sterne zu gebären vermögen, tut deshalb gut daran, auf zwangsneurotische Strukturen zu verzichten und den Menschen Räume anzubieten, die genügend Freiheit zur individuellen Potenzialentfaltung lassen. Uniformität der Raumgestaltung gilt es unbedingt zu vermeiden.
Die Organisation im Ganzen wird sich frei entfalten, wenn es ihren Entscheidern gelingt, einen stimmigen Dreiklang aus Rationalität, Emotionalität und Sozialität zu erzeugen. Wo Büroräume auf diesen Dreiklang gestimmt sind, werden sie zu Resonanzräumen der Potenzialentfaltung, in denen ein begeisternder Geist zu wehen vermag.
Gut gestimmte Unternehmen sind exzellente Unternehmen. Sie werden ökonomisch und menschlich erfolgreich sein. Ihr Erfolg bemisst sich nicht allein nach der Rendite, sondern auch nach ihrem Vermögen, gesellschaftlichen und persönlichen Mehrwert zu erzeugen.
Exzellente Unternehmen werden sich nicht darauf beschränken, Prozesse zu optimieren und Erträge zu maximieren, sondern sie werden dafür Sorge tragen, dass alle Prozesse eingebettet sind in eine humane Unternehmenskultur, die Menschen zu beseelen, zu begeistern und zu motivieren vermag. Solche Unternehmenskulturen zu entwickeln, zu hegen und zu pflegen wird zur Kernaufgabe avancierter Unternehmensführung im 21. Jahrhundert.
In einer diesem unternehmerischen Purpose entsprechenden avancierten Unternehmenskultur werden zugleich mit ökonomischer Wertschöpfung auch ethische Werte kultiviert, die Haltung und Verhalten eines Unternehmers bzw. seiner Mitarbeiter bestimmen. So gelingt eine ganzheitliche und zukunftstaugliche Unternehmenskulturentwicklung, die das leistet, was das Wort verspricht: Sie wird die Wickel entfernen, die ein Unternehmen fesseln und seiner blühenden Lebendigkeit im Wege stehen; sie wird das Unternehmen entwickeln, um die Kräfte freizusetzen, die es ihm erlauben, seine Identität auszubilden und im eigentlichen Sinne zu sich selbst zu kommen.
Die Zukunft gehört nicht solchen Unternehmen, die ihre Funktionalität perfektioniert, ihre Effizienz optimiert und ihre Profitabilität maximiert haben. Die Zukunft gehört Unternehmen, die organisch wachsen, in Schönheit erblühen und nachhaltig reiche Früchte tragen.
Literaturverzeichnis
- Kulick A., Quarch C., Teunen J. (2017): Officina Humana. Das Büro als Lebensraum für Potenzialentfaltung, avedition, Stuttgart.
- Eickhoff, H., Teunen J. (2018): Burra: Der fabelhafte Aufstieg der Büroarbeit (Hg. Friedrich Blaha), avedition, Stuttgart.
- Quarch C., Teunen J. (2019): Wo die Seele singt. Über Kunst in Unternehmen, ReMedium, Geisenheim.
- Quarch C. (2021): Begeistern! Wie Unternehmen über sich hinauswachsen, Schäffer & Poeschel, Stuttgart.
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