In ihrem neuen Buch beschreibt die Zukunftsforscherin Oona Horx Strathern einen Gegentrend zum vorherrschenden, auf Profit ausgerichteten Businessmodel: die Kindness Economy. Hier erklärt sie, was sich dahinter verbirgt.
Ist Kindness (engl. Freundlichkeit) die Triebfeder einer neuen Ökonomie? Auf den ersten Blick scheinen sich die beiden Begriffe nur schwer miteinander vereinbaren zu lassen. Aber stellen Sie sich eine Wirtschaft vor, in der wir Menschen und Menschlichkeit als Prioritäten setzen. Und stellen Sie sich weiter vor, bei Kindness ginge es um viel mehr, als nur freundlich zu sein. Im Kern stellt die Kindness Economy das traditionelle Businessdenken auf den Kopf. Das Motto heißt „People, Planet, Profit” – in dieser Reihenfolge. Denke zuerst an Menschen, dann an den Planeten, dann an Profit.
Arbeit neu gedacht
Das englische Wort Kindness klingt harmlos, bedeutet aber viel mehr als „nett sein“. Im Kontext der Kindness Economy geht es um Respekt, Aufmerksamkeit, Anstand und auch um Freundlichkeit. Ist das in der heutigen Wirtschaftslage wirklich so eine schlechte Idee? Firmen wie Patagonia sind Vorreiter. CEO Yvon Chouinard erklärte dazu: „Bei Patagonia ist Gewinn nicht das Ziel. Der Zen-Meister würde sagen, dass Gewinne geschehen, wenn Sie alles andere richtig machen. Außerdem wedelt in vielen Unternehmen der Schwanz (Finanzen) mit dem Hund (Unternehmensentscheidungen). Wir bemühen uns, die Finanzierung von Maßnahmen, die der Umwelt zugutekommen, damit in Einklang zu bringen, dass wir auch in den nächsten hundert Jahren noch im Geschäft bleiben wollen.“
Auf Grundlage von Chouinards Arbeitsethik und seiner Philosophie funktioniert das bereits seit den 1970ern: „Wir praktizieren eine flexible Arbeitseinteilung. Das tun wir, seit wir eine Schmiedewerkstatt waren, die jedes Mal zumachte, wenn die Wellen zwei Meter hoch und spiegelglatt waren. Unsere Politik hat den Mitarbeitenden immer flexible Arbeitszeiten erlaubt, solange die Arbeit ohne negative Auswirkungen auf andere getan wird.“ Chouinard war immer überzeugt, dass flexible Arbeitszeiten dazu führen, dass die Mitarbeitenden besser werden und mit ihnen die Erträge. So war sein Unternehmen eines der ersten in den USA, das auf Firmenkosten eine Kinderbetreuung vor Ort anbot. „Bei Patagonia“, so Chouinard, „bringt unsere Kinderbetreuung eines unserer besten Produkte hervor: ausgezeichnete Kinder.“ Und glückliche Eltern. Es überrascht wohl nicht, dass etwa 50 Prozent seiner Mitarbeitenden weiblich sind.
BUCHTIPP:
Oona Horx-Strathern: Kindness Economy – Das neue Wirtschaftswunder*,
Gabal, 224 S., 32,99 €.
Wenn Sie eine einfache Erklärung für das heutige Interesse an der Kindness-Ökonomie suchen, denken Sie nur an die vielen Beispiele für eine „unfreundliche“ Economy. Hören Sie Freunden und Verwandten zu, die in ihrem Job unglücklich sind, deren Talent dort verschwendet wird. Denken Sie an die „Great Resignation“ (Menschen verlassen enttäuscht ihren Arbeitsplatz) oder „Quiet Quitting“ (das Minimalprogramm bei der Arbeit). Unternehmen wie Uber und Amazon sind in den letzten Jahren aus den falschen Gründen in die Schlagzeilen geraten – die Geschichten von ausgebeuteten, gestressten Arbeitern sprechen für sich.
Abschied vom „Old Deal“
Eine Umfrage von Hewlett-Packard von 2023 mit dem Namen „Work Relationship Index“ hat ergeben, dass nur 27 Prozent der Wissensarbeiter ein gesundes Verhältnis zur Arbeit haben. Umgekehrt bedeutet das: Fast zwei Drittel glauben, dass sie ein ungesundes Verhältnis zur Arbeit haben. Darüber hinaus gaben nur 29 Prozent der in zwölf Ländern befragten 15.000 Menschen an, dass ihr Job durchweg die Bedürfnisse nach Sinn, Selbstbestimmung und echter Verbundenheit erfüllt. Wie der CEO von HP, Enrique Lores, im Fachmagazin Fast Company schrieb: „Wir müssen die falsche Wahl zwischen Produktivität und Glück ablehnen.” Allzu oft werden diese als gegensätzliche Kräfte dargestellt. Aber wenn man wirklich innehält und darüber nachdenkt, gehen sie Hand in Hand.
Die Kindness Economy ist ein Gegentrend. Sie ist Teil unserer wirtschaftlichen Entwicklung von der reinen Industriegesellschaft zur postindustriellen Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft. Die nächsten Generationen sind schon dabei, den „Old Deal“ infrage zu stellen, und zwar von unten und von oben. Alte Arbeitsmodelle des Industrialismus wie die Nine-to-five-Logik brechen auf. Die Vier-Tage-Woche ist vielfach im Gespräch und die 2:3:2-Hybrid-Arbeitsformel auch (zwei bis drei Tage Büro, zwei bis drei Tage Homeoffice und zwei Tage frei). In gewisser Weise wechseln sogar die Machtpositionen im Herzen der Ökonomie: von Kapital zu Arbeit. Die wirklich knappe Ressource der Zukunft ist die menschliche Arbeitskraft.
Firmen, die nur Gewinnmaximierung priorisieren, vernachlässigen Faktoren wie Nachhaltigkeit, Purpose und Verantwortung. Diese sind üblicherweise als „soft skills“ oder „soft goals“ dargestellt und werden von Arbeitssuchenden als immer wichtiger erachtet. Umfragen der letzten Jahre belegen, dass insbesondere bei Personen der Generationen Y und Z das Bewusstsein für Unternehmensethik stetig wächst. Laut einer Studie des Weltwirtschaftsforums von 2023 würden sich 50 Prozent dieser Generationen weigern, für einen Arbeitgeber zu arbeiten, der sich nicht proaktiv um mehr Nachhaltigkeit bemüht.
Neben den gut belegten wechselnden ökologischen und wirtschaftlichen Herausforderungen sehen wir uns auch mit einem enormen, bisher nie da gewesenen Ausmaß an Ernüchterung unter den Arbeitskräften, an gesellschaftlicher Unzufriedenheit und Einsamkeit konfrontiert. In dieser Situation ist die in der Wirtschaft jahrzehntelang betriebene Strategie, alles dem Profit unterzuordnen und sich um die Menschen oder den Planeten „einen Dreck zu scheren“, nicht mehr länger tragbar. Es ist Zeit für eine Transformation. Und dafür brauchen wir neue, inspirierende Narrative. Während Fabeln uns Gefahren und Fallen bewusst machen, können Narrative etwas verändern. Sie treiben auch die Wirtschaft an, so Robert Shiller, der Träger des Alfred-Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaftswissenschaften von 2013: „Vieles, was in der Wirtschaft passiert, hängt tatsächlich von den Geschichten ab, die wir uns gegenseitig erzählen, und vieles, was Menschen tun, ist nicht wirklich optimal für sie.“ In seinem Buch „Narrative Economics“ vergleicht Shiller die Ausbreitung von Narrativen und deren Folgen mit einer Epidemie: „Es entstehen ständig neue Varianten der Grippe, die meisten davon verflüchtigen sich aber wieder. Genauso verhält es sich auch mit Narrativen – sie mutieren und verändern sich, sie kommen und gehen, aber nur einige können eine gewisse Stabilität erreichen und sich durchsetzen.“
Denken der Zukunft
Die Kindness Economy ist ein „Mem“ (kleinste kulturelle Einheit zum Zweck der Selbstreplikation), das sich in verschiedenen Formen, Branchen und Arten ausbreiten kann: in großen oder kleinen Firmen, von der Stadtplanung bis zu kleinen Communitys, von der Firmenstrategie bis ins tägliche Leben. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Ihre Firma hätte einen „Chief Kindness Officer“. Und statt über „KPIs“ (Key Performance Indicators) zu reden, würde mit Kindness Performance Indicators operiert. Um es mit den Worten von Mary Portas, der britischen Businessexpertin, auszudrücken: „Es ist gerade eine allgemeine Tendenz zu spüren, den aktuellen Zustand zu hinterfragen, und das gibt uns die Möglichkeit – als Unternehmen, als Kunden, als Menschen –, aufs Neue zu definieren: Was könnte und was sollte Kapitalismus sein.” Und das ist weit mehr als nur ein moralischer Appell. Es ist das Denken der Zukunft.
Oona Horx Strathern, Trend- und Zukunftsforscherin. |