Heute, am 23. Januar, ist wieder „Tag der Handschrift“. Aus diesem Anlass erklärt hier die Handschrift-Expertin und -Trainerin Susanne Dorendorff, was diese Kulturtechnik so besonders macht und warum der Handschrift-Funke in jedem ein Feuer entzünden kann.
Es ist wie beim Verlieben: Wenn der Funke überspringt, gibt es kein Halten mehr. So auch beim Schreiben. Wer fühlt, dass die innere Bewegung und die Handbewegung eins sind, den trifft der Handschrift-Funke wie ein Blitz, der erlebt einen Machtwechsel: Nicht Stift und Hand dominieren die Schrift, sondern man selbst, das innere Ich hat den Stift im Griff. Es sind Verstand und Gefühl, die auf dem Papier navigieren, nicht Kuli und Füller. Wie beim Sprechen fließen Geist und Gefühl in die Buchstaben, bilden Wörter und formen spontan drauflos. Wir haben die Schrift, um mit ihr zu spielen. Richtig spielen – nicht schönschreiben! Das ist wichtig. Wer sich vom Zwang befreit und spielt, der liebt es und seine Handschrift wird immer besser, weil er sie versteht. Schreiben ging uns schon immer unter die Haut.
Das Märchen vom Schreibtod
Darum machen wir auch so ein Bohei um die Handschrift und schenken ihr alle Jahre wieder einen Ehrentag, an dem die einen sie vergöttern und die anderen sie verteufeln und lauthals verkünden, dass kein Mensch mehr schreibt. Was natürlich Quatsch ist. Denn wenn keiner mehr schreiben will, wieso wächst dann die Papeterie-Branche in den Himmel? Wieso gibt es immer mehr Tinten in allen erdenklichen Farben und Angebote zum Verbessern der Handschrift – sogar online? Wieso schreiben wir auch auf Tablets wie die Weltmeister? Die Handschrift ist offenkundig doch nicht totzukriegen. Wieso nicht? Weil Schreiben die einzige ad infinitum sichtbare Gehirnlebensspur ist. Die Handschrift zeigt Ihnen, dass Sie leben, wie Sie denken, fühlen und wer Sie sind. Wer behauptet, man brauche sie nur für Einkaufzettel und Liebesbriefe, hat keine Ahnung vom Schreiben. Glaubt wirklich irgendwer das Märchen vom Schreibtod? Ein Blick in die Papeterie um die Ecke und man sieht: Das Gros der Gesellschaft lechzt danach, es zu tun. Und zwar richtig! Jeder kann es sehen: Schon seit Jahren ließe sich wesentlich mehr an der Schreibbegeisterung verdienen als an deren Zerschlagung. Positive Kommerzialisierung des Schreibens wäre wesentlich lukrativer als dessen Ignorieren. Vom Vorschulgekritzel bis zum anspruchsvollen Leinwandbild-Schreiben von fünf bis 95 gäbe es dann. Denn eins ist mal klar: Die Bevölkerung ist nicht blöd. Es ist empirisch erwiesen, dass mündige Menschen sich zwar eine Zeit lang einiges gefallen lassen. Aber nicht ewig. Und die Handschrift lassen sie sich schon mal gar nicht nehmen. Die Tastatur kann das Schreiben mit der Hand intellektuell nicht ersetzen, sondern nur ergänzen.
Eine intrinsische Kraft
Trendforscher und Global Player bestätigen die kreative Kehrtwende: Schreiben ist auf dem besten Weg, einen Schreib-Hype auszulösen. Andere Kulturen haben es längst begriffen. Nur die Deutschen, die straft wieder das Leben. Also weg mit dem Negativimage – her mit der Marktlücke. Schreiben hat ein fantastisches Ausdruckspotenzial. Wer dabei an Sauklauen, Kalligrafie und Handlettering denkt, ist von vorgestern. Schreiben expandiert, gerade weil es uns genommen werden soll.
Lassen Sie sich sagen: Die Sehnsucht bleibt. Die „Jungs“ kommen sogar mit 55 noch zu mir, um „anständig schreiben“ zu lernen … „Sie haben mir neues Leben geschenkt“, stellte ein Schweizer Unternehmer beim Anblick seiner neuen Schreibtechnik begeistert fest. Was trieb ihn an, es doch noch einmal zu versuchen? Psychologisch ausgedrückt ist es die intrinsische Kraft der Selbstwirksamkeit. Anders gesagt: Wer nicht schreiben kann, empfindet es als persönliches Defizit.
Versagen der Wissenschaft
Das Problem ist uralt. Der Casus knacksus ist die Weigerung der Wissenschaft, Schreiben und Rechtschreiben forschend so zu durchdringen, dass es sich der Gesellschaft bzw. der Schule als Didaktik erschließt. Stattdessen behaupten sie: „Druckschrift ist Schreibschrift, wenn sie mit der Hand geschrieben wird.“ Gehts noch?! Dieses provokante Versagen ist der Dolchstoß, der echter Schreibkompetenz immer wieder den Garaus macht. Statt verlässlicher persönlicher Anleitung gibt es in der Schule nur Ignoranz, Leere und Quälerei. Weg damit!
BUCHTIPP:
Susanne Dorendorff: Klasse! Millionen Kinder leiden unter Schreibangst – Fritz erzählt, wie er seine besiegte*, BoD – Books on Demand, 280 S., 14,99 €.
Handschrift als Befreiung
Die Handschrift lebt, weil sie Emotionen reflektiert. Sie ist authentisch, spontan, intuitiv, emotional und asymmetrisch. Achten Sie mal darauf. Dann verstehen Sie, dass der Handschrift-Funke Leben einhaucht und Selbstbewusstsein stärkt. Er entspringt jener Lebensquelle, aus der heraus geliebt, gehasst, gefühlt und verstanden wird, die uns singen und erbeben lässt und dafür sorgen kann, dass Lebewesen sich auch ohne Worte verstehen.
Als ich diese Quelle in meiner Handschrift entdeckte, sprang der Funke über und es gab kein Halten mehr. Und wie es mit der Liebe so ist, man muss seinem Gegenüber vertrauen. In diesem Fall ist man es selbst. Also: Vertrauen Sie sich, und das Schreiben fließt. Zeigen Sie sich und lassen Sie sehen, wer Sie sind. Es ist eine Befreiung. Die beiden Schriftproben sind der Beweis.
Susanne Dorendorff, Gründerin des Europäischen Instituts für Handschrift und Philographie in Hamburg. |