Sind Denken, Arbeiten und Leben ohne den Schreibtisch als Kraftzentrum und Schnittstelle zur Persönlichkeit vorstellbar? Die Publizistin und Wirtschaftspsychologin Dr. Alexandra Hildebrandt verneint und sagt, welche Rolle Ordnung und Nachhaltigkeit dabei spielen.
Unnötiges „fliegt raus“. Was bleibt, das erhält eine teamfähige Systematik. Das Ergebnis: eine genau berechenbare Kostenminimierung, eine teamfähige Papierregentschaft und Zufriedenheit. „Eine feste Routine rettet dich vorm Aufgeben“, sagte John Updike. Dem Schreibtisch als Kraftzentrum zwischen Leben und Arbeit und Garant einer neuen Beheimatung widmet sich Inge Jens in ihrem Buch „Am Schreibtisch. Thomas Mann und seine Welt“. Der Schreibtisch war für Thomas Mann
- Ort einsamer Hervorbringungen,
- Symbol für schwer errungenes Überleben, für Erfolg und öffentliche Anerkennung,
- Zeuge von Niederlagen und Demütigungen,
- Zeitgeschichte in subjektiver Brechung.
Der Schreibtisch als Faktor der Lebenssicherheit
An diesem Ort samt den vertrauten Utensilien, die ihm das Gefühl von Sicherheit und Kontinuität vermittelten, versammelte der Schriftsteller seine Gedanken. „Es ist faszinierend zu sehen, wie sich Thomas Manns Leben in dem Augenblick wieder ordnet, da er über einen Arbeitstisch verfügt, dessen Nutzung ausschließlich ihm vorbehalten blieb.“ Unordnung war für Thomas Mann eine psychische Belastung und mit trüben Gedanken verbunden.
Auch David Lynch erzählte 1990, dass er es mag, „wenn alles seine Ordnung hat“. Simone de Beauvoir gab keine Partys und keine Empfänge. Was für sie wirklich zählte, war das Essenzielle. „Ihr Leben war sehr ordentlich und absichtlich so einfach aufgebaut, damit sie sich ganz ihrer Arbeit widmen konnte“, schreibt Mason Currey in seinem Buch „Musenküsse“, in dem er 88 Weisheiten von kreativen Berühmtheiten in unterhaltsamen Miniaturen beschrieben hat.
Wohlfühlen und Erdung stellen sich mit Ordnung ein
Bei der Ordnung geht es um das, was Martin Heidegger bereits in den 1950er Jahren mit Bodenständigkeit beschrieben hat. Gemeint ist eine im besten Wortsinn erdverbundene Haltung, „die eigene Entwicklungsmöglichkeiten in einem stabilen Umfeld genauso ernst nimmt wie die Freude an der Neugier“, sagt die Philosophin Ina Schmidt in ihrem Buch „Alles in bester Ordnung. Oder wie man lernt, das Chaos zu lieben. Ein philosophischer Wegweiser vom Suchen und Finden“ (2011). Auch die Nachhaltigkeitsexpertin Claudia Silber, Leiterin Unternehmenskommunikation bei der memo AG, bestätigt, dass sich Ordnung bei ihr erleichternd, geerdet und bodenständig anfühlt.
Besonders nahe ist ihr die Aussage der Philosophin Schmidt, dass wir nur bei den Dingen (und Menschen), zu denen wir eine (gute) Beziehung haben, Glück finden. Das geht bei ihr auch in Richtung Minimalismus: „Wenn wir zu viele Dinge (und Menschen) anhäufen, verlieren wir den Überblick, wird es unordentlich, und wir sind letztlich nicht glücklich. Dabei geht es dann auch wieder um das Thema Konzentration, die uns den Blick auf das Wesentliche richten lässt. Die Konzentration auf die wesentlichen Dinge (und Menschen) im Leben machen uns glücklich, und wir fühlen uns sortiert, gut aufgehoben. Der Rest kann getrost in den Papierkorb wandern oder besser: in gute Hände weggegeben werden.“
Die Nachhaltigkeit ist ein Teil vom Lebensglück
An diesem Beispiel zeigt sich zugleich die inhaltliche Verbindung von aktuellen Nachhaltigkeitsthemen (Bodenständigkeit, Solidität) und soziophilosophischen wie -psychologischen Überlegungen bei Ina Schmidt (Aufmerksamkeit, Stimmigkeit). Wenn jedes Thema einzeln betrachtet wird, lassen sich die inhaltlichen Punkte nur schwer verbinden. Die gemeinsame Ordnung zeigt sich erst später, wenn vor dem inneren Auge ein Gesamtbild entsteht aus Leben, Erfahrung und Lesen. Auch das ist Nachhaltigkeit: darauf zu vertrauen, dass sich etwas irgendwann zusammenfügt. Ordnung und Nachhaltigkeit sind untrennbar miteinander verbunden. Allerdings muss, wer Nachhaltigkeit im besten Wortsinn „be-greifen“ will, zuerst den Raum entrümpeln, in dem dieses kulturell tief verwurzelte Wort neben vielen inhaltsleeren Begriffen steht, die seinen eigentlichen Kern verdecken.
Dr. Alexandra Hildebrandt,
Publizistin, Wirtschaftspsychologin und Nachhaltigkeitsexpertin. Twitter: @AHildebrandt70 Foto: Nicole Simon |