Die deutsche Provinz ist besser als ihr Ruf. Sie weist gerade in Karrierefragen gegenüber Großstädten Vorteile auf. Diese beschreibt unsere Kolumnistin, die Wirtschaftspsychologin und Nachhaltigkeitsexpertin Dr. Alexandra Hildebrandt.
Die Bundesstiftung Baukunst fragte 2015, wo die Deutschen am liebsten wohnen würden. Fast 80 Prozent gaben an, dass sie auf dem Land, auch in einer Mittel- oder Kleinstadt leben möchten. Zwischen Wunsch und Wirklichkeit klafft jedoch eine enorme Lücke, denn die meisten bleiben wegen ihrer Jobs in den Großstädten, wo sich zudem Stellen leichter besetzen lassen. Dabei kommen viele Produkte von Weltmarktführern aus der deutschen Provinz: Fruchtgummis aus dem Saarland, Strickmaschinen aus Reutlingen, Kristallgläser aus Zwiesel, Küchen aus Rödinghausen. Alle erobern Schritt für Schritt die Märkte. Da sie es allerdings bodenständig und leise tun, wissen vor allem viele junge Menschen nicht um die enormen Möglichkeiten der deutschen Provinz.
Große Karriere und Chancen im Kleinen
Zu sich selbst kommen kann ein Mensch nur in überschaubaren Strukturen, so wie es der Philosoph Jean-Jacques Rousseau für die kleine Stadt beschrieben hat. Hier „findet man mehr originale Geister, mehr sinnreiche Erfindungskraft, mehr wahrhaft neue Dinge, denn bei der kleinen Anzahl von Vorbildern ahmt man weniger nach, jeder nimmt viel mehr aus sich selbst und legt mehr von sich selbst in alles, was er tut“.
Es sind demnach nicht die künstlich hochgezogenen Kreativlabs in den Städten, die Innovationen hervorbringen, sondern das Abgelegene und tief Verwurzelte. Wolf Lotter verweist darauf, dass die unternehmerische Provinz eine „weit stabilere und zuverlässigere Volkswirtschaft“ bietet als eine, „die aus einer Handvoll Konzerne plus mehreren Häuserblocks mit Start-ups besteht“. Sein einleitendes Motto im Beitrag „Draußen vor der Tür“ stammt von Carl Amery, einem Schriftsteller und Vordenker der ökologischen Bewegung. 1964 schrieb Amery: „Der Provinzler ist, aufs Ganze gesehen, politisch und sozial leistungsfähiger als der Großstädter.“
Unternehmen in der Provinz können häufig auf eine lange Firmenhistorie sowie auf Gründer verweisen, die buchstäblich Geschichte geschrieben haben. Der Blick in eine solche Unternehmenshistorie vermittelt zugleich einen guten Eindruck der Unternehmenskultur, deren Kernelement wertorientiertes Management ist. Eine Unternehmenskultur, die auf Wertschätzung basiert und Werte kommuniziert, steigert die Leistung und legt das Fundament für nachhaltigen Erfolg, da sie die Loyalität hoch qualifizierter Arbeitskräfte und langjähriger Kunden gegenüber dem Unternehmen festigt und diese an das Unternehmen bindet.
Karriere eines Unternehmens
Die persönliche Verantwortung der Inhaber, aber auch langfristig angelegte Strategien und Beharrlichkeit sind notwendige Voraussetzungen dafür, dass diese Unternehmen über Generationen fortgeführt werden können. Das inhabergeführte Familienunternehmen Häcker Küchen wurde 1898 gegründet und produziert seit 1965 moderne Einbauküchen am Standort Rödinghausen. Die kreisangehörige Gemeinde im Nordosten von NRW liegt rund 30 Kilometer nördlich von Bielefeld. Mit etwa 10.000 Einwohnern ist es die kleinste Gemeinde im ostwestfälischen Kreis Herford. Derzeit werden von Rödinghausen aus über 60 Länder auf allen Kontinenten mit Küchen Made in Germany beliefert. Die Produktion der Küchen erfolgt ausschließlich an diesem Standort. Die Werte des Unternehmens, das sich in krisenanfälligen Zeiten als robust erweist, sind durch Nachhaltigkeit und Familientradition geprägt. So wird es heute von Jochen Finkemeier und seinem Team in die Zukunft geführt.
Kraft tanken in der Provinz
Wohnen und arbeiten in der Provinz stärkt nicht allein regionale Wirtschaftskreisläufe, sondern in Zeiten wachsender Unsicherheit ebenso das Gefühl, über verschiedenste Optionen verfügen zu können, um die Gemeinschaft zu stärken, in der sich Menschen für ihre Nachbarn und ihre Umwelt verantwortlich fühlen. Wo dies besonders ausgeprägt ist, sind Menschen eher in der Lage, Krisen zu bewältigen.
Weiterführende Informationen:
Alexandra Hildebrandt/Wener Neumüller (Hg.): „Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer“, SpringerGabler, Berlin Heidelberg 2018.
Dr. Alexandra Hildebrandt, Publizistin, Wirtschaftspsychologin und Nachhaltigkeitsexpertin.
Twitter: @AHildebrandt70 Foto: Steffi Henn |