Die großen Philosophen kultivierten den Zweifel, der heute wieder zu einer wichtigen Tugend werden kann. Darüber sinniert unsere Kolumnistin, die Wirtschaftspsychologin und Nachhaltigkeitsexpertin Dr. Alexandra Hildebrandt.
Der Zweifel hilft uns beim differenzierten Denken und Abwägen. Der bewusste Zweifler steht in der Tradition des Skeptikers. Skepsis ist ein aus der griechischen Philosophie stammender Begriff, der auf Pyrrhon von Elis zurückgeht und sich vom griechischen Verb „skeptesthai“ (umherspähen, suchen, prüfen, genau betrachten) herleitet. Er hängt zwar mit dem Zweifeln zusammen, sollte aber nicht darauf verengt werden. Ein Skeptiker prüft und betrachtet die Dinge genau und nimmt eine observierende Haltung zur Welt ein. Sein Drang, alles infrage zu stellen, basiert auf einer genauen und unvoreingenommenen Beobachtung.
Der Zweifel gestern und heute
Im 18. Jahrhundert setzte der Zweifel die Aufklärung in Bewegung. Der französische Philosoph und Mathematiker René Descartes brauchte ihn, um rückschließen zu können, dass er denkt und existiert. Mit dem berühmten Satz „Cogito ergo sum“ wurde er zu einem der bedeutendsten Wegbereiter der Aufklärungsphilosophie: „Ich zweifle, also bin ich, oder was dasselbe ist, ich denke, also bin ich.“ Voltaire machte den Zweifel sogar zu einer Maxime seines Denkens: „Zweifel ist zwar kein angenehmer geistiger Zustand, aber Gewissheit ist ein lächerlicher.“
Das gilt heute für die Gewissheit, die viele Menschen mit den positiven Folgen der Digitalisierung verbinden: Zugang zu Wissen, Vernetzung und grenzenlose Kommunikation sind etwas Großartiges. Der Zweifel hilft uns, nicht nur in den Kategorien von Rausch und Ernüchterung, von schwarz (digitale Abstinenz) und weiß (vollmundige Verheißungen der schönen neuen Welt) zu denken. Die Publizistin Carolin Ehmke fragte in ihrem Beitrag Antastbar: „Wie lassen sich Nachdenklichkeit und Zweifel zurückbringen ins Gespräch?“
Im Kontext der Digitalisierung schrieb der Soziologe Harald Welzer 2016 in polemischer Weise von der smarten Diktatur eines Digitalimperialismus, den man bekämpfen müsse, denn das „gute Leben“ sei analog. Es ist unumgänglich, die kritischen Erörterungen zur Digitalisierung ernst zu nehmen (die Akkumulation der Daten, die Manipulation des Konsumverhaltens, unreguliertes Datensammeln, Geheimdienste und Unternehmen, die Digitalisierung zu ihrem Vorteil ausnutzen etc.), doch ist es genauso wichtig zu vermitteln, dass es heute um den Realitätssinn für das Thema gehen sollte und uns Alarmismus und Panik ebenso wenig weiterbringen wie blinde Euphorie.
Zweifeln, um nicht zu verzweifeln
Wir müssen die Rolle der Digitalisierung verstehen, um sie mit entsprechenden Grundkompetenzen richtig zu gestalten – und zwar in der Weise, dass die Angst nicht zu stark wird und der Zweifel mit einer Verweigerungshaltung einhergeht: „Schaffen wir es nicht, die Euphorie gegenüber neuen Technologien mit Zweifeln und kritischem Hinterfragen zu kombinieren, laufen wir Gefahr, uns lächerlich zu machen.“ Dies schreibt Felix Schwenzel in seiner Kolumne im t3n-Magazin. Er möchte dem Zweifel zu mehr Popularität verhelfen. Der Zweifel ist für ihn dann konstruktiv, solange die Angst nicht dominiert und Skepsis mit Lust, Neugier und Offenheit einhergeht.
Vom französischen Philosophen, Essayisten und Skeptiker Paul Valéry (1871–1945) können wir heute vor allem das Prüfen im Digitalisierungskontext lernen: Er übte und stärkte seinen Geist durch rückhaltloses, dabei präzises Fragen (facultas interrogandi) – durch das Infragestellen des sicher Geglaubten.
Weiterführende Informationen:
Alexandra Hildebrandt/Werner Landhäußer (Hg.):„CSR und Digitalisierung. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft“, SpringerGabler, Berlin Heidelberg 2017.
Alexandra Hildebrandt: „Kopf oder Bauch? Wie wir heute die richtigen Entscheidungen treffen“, Amazon Media EU S.à r.l., Kindle Edition 2017.
Alexandra Hildebrandt/Werner Neumüller: „Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer“, SpringerGabler, Berlin Heidelberg 2018.
Dr. Alexandra Hildebrandt, Publizistin, Wirtschaftspsychologin und Nachhaltigkeitsexpertin.
Twitter: @AHildebrandt70 Foto: Steffi Henn |