Unsere Zeit in einem Wort: Mehr! Dabei ist doch oft auch weniger mehr. Davon ist der Arbeitsforscher Dr. Hans Rusinek überzeugt. Er plädiert für Subtraktives Denken statt immer noch etwas oben draufzulegen.

Dr. Hans Rusinek, Managementberater, Transformationsforscher, Keynote Speaker und preisgekrönter Autor. hans-rusinek.de. Abbildung: Heinrich Holtgreve
Meine einjährige Tochter kann nun drei Worte sprechen: „Mama“, „Papa“ und nun, am Esstisch, sagt sie ihr derzeit liebstes Wort: „mehr“. Neinneinnein, geht es mir da durch die Knochen: In Zeiten von Klimakrise und Überkonsum kann es doch nicht um ein Mehr gehen, sondern höchstens um ein Besser. Meine Tochter darf als Kleinkind natürlich noch hemmungslos wachsen. Mit ihrem „Mehr“ weist sie aber auf eine psychologische Verzerrung hin, die in der Erwachsenenwelt zum Problem geworden ist.
„In unserem Bestreben, unser Leben, unsere Arbeit und unsere Gesellschaft zu verbessern, fügen wir in erster Linie mehr Dinge hinzu“, so der amerikanische Ingenieur und Verhaltensforscher Leidy Klotz. Wir sind es gewohnt, additiv zu denken. Das sei aber nicht mehr zeitgemäß, meint er und fordert: „Subtraktives Denken hingegen heißt, Verbesserung durch die Wegnahme von Dingen zu erreichen.“
Colin Chapman, der Gründer von Lotus, eines Formel-1-Rennstalls, war einer der visionärsten Ingenieure der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seine Philosophie lautete: „Simplify, then add lightness“ – bedingungslos vereinfachen und dann nur noch Leichtigkeit hinzufügen. Sein Credo: Ein abgespecktes, federleichtes Auto ist zwar auf gerader Strecke langsamer als eine bullige Muskelmaschine. Es ist aber überall sonst schneller. Damit gewannen die Lotus-Autos von Chapman sieben Formel-1-Meisterschaften.
Das Verbessern durch Subtrahieren ist eine brillante Lösungsstrategie, die unser Gehirn systematisch übersieht, wie Klotz mit seiner Kollegin Gabriele Adams in mehreren Experimenten erforscht hat. Sie baten Menschen, etwas zu verbessern – beispielsweise das Dach eines Legohauses oder einen selbst geschriebenen Text. In allen Experimenten wurden eher neue Dinge hinzugefügt als das Bestehende ab- oder umgebaut, selbst wenn die Ergänzungen zu schlechteren Ergebnissen führten. In dem Legoexperiment entschieden sich weniger als zehn Prozent dafür, Bausteine zu entfernen. Bei dem Textexperiment kürzten nur 16 Prozent Wörter, während 80 Prozent sie hinzufügten. Warum neigen wir zu diesen Denkfehlern? Manche vermuten evolutionspsychologische Gründe. Im Zweifel war es in Stammesgesellschaften besser, mehr zu haben. Andere weisen auf die Begrenztheit unseres Gehirns hin, das an allen möglichen Stellen versucht, Energie zu sparen – subtrahieren ist da vielleicht einfach nur ein bisschen zu anstrengend. Die Frage, ob Subtraktives Denken eigentlich über Altersgruppen und Kulturen hinweg ein Problem darstellt, ist ebenfalls noch offen.
Natürlich geht es bei der Unfähigkeit zum Subtraktiven Denken nicht nur um Spielzeug und Texte. Nun aus den Stammesgesellschaften herausgewachsen, verbindet uns dieser Automatismus mit den großen Systemkrisen unserer Zeit. Der Sozialpsychologe Harald Welzer beobachtet, dass es kaum jemand schafft, irgendetwas rechtzeitig und freiwillig herunterzufahren. Eine Aufgabe, eine Rolle, eine Karriere – es kommt immer was oben drauf. Wer aber nicht ausmisten kann, dem droht der Infarkt. Denn ohne Exnovation, ohne ein Beenden, eine Reduktion, um neuen Raum zu schaffen, werden auch echter Fortschritt und grundlegende Innovation unmöglich.
Die Folgen einer Welt, die rein additiv denken und handeln kann, spüren wir dann auch in unser aller Lebensrealität: Wir rasen, wir müssen geradezu rasen, damit unsere Welt nicht aufgrund verfehlter Wachstums- und Aufstiegsziele implodiert. Und doch verharrt die Raserei dabei auch, denn sie hat den Sinn für die Bewegung, für ein Besser verloren. Diese Raserei – dieses ewige Hinzufügen, Vermehren und Anhäufen – drückt sich in Aggressionsverhältnissen aus: zu unserer Umwelt, unseren Mitmenschen und zu uns selbst und unserem Körper. Da muss noch mehr gehen, sagen wir. Beim Blick auf unseren Job, unsere Fitness, unsere Kinder, unsere Welt. Und verheizen all dies.
Subtraktiv muss stattdessen das Denken, muss die menschliche Intelligenz sein, die unsere Gegenwart heute braucht. Alles andere ist doch nur die Intelligenz einer Raupe Nimmersatt. Vielleicht wird das vierte Wort meiner Tochter also „besser“ oder gleich „subtraktiv“?