In den Großstädten boomt weiterhin das Thema Coworking. Nun folgt ein ganz ähnlicher Trend: Coliving. Robert Nehring hat diese Art von Coworking für Fortgeschrittene einmal näher betrachtet.
Was Coliving genau ist, das lässt sich in etwa so schwer zu definieren wie das Coworking. Es handelt sich um eine Form von gemeinsamem Leben und Arbeiten am selben Ort, um eine Bürogemeinschaft in Wohngemeinschaft oder einfach um eine Business-WG. Praktisch betrachtet geht es hier um Coworking-Spaces mit privatem Schlafraum. Wer nach dem Coworken also nicht nach Hause geht, sondern nur nach nebenan, der macht Coliving.
All inclusive
Coliver sind in der Regel zwischen 20 und 35 Jahren alt und „digital unterwegs“. Zum einen finden Arbeit und Privates wesentlich auf ihren Devices statt. Zum anderen bleiben sie oft nur für eine begrenzte Zeit an einem Ort. Viele Coliver sind Projektarbeiter, Start-up-Gründer, Freelancer, Praktikanten oder Künstler.
Coliving-Projekte bieten in der Regel
- freien Zugang zum Coworking-Space mit Arbeitsplätzen in verschiedenen Umgebungen (etwa Open Space, Cafeteria, Konferenzraum),
- freien Zugang zu Gemeinschaftsküche, Waschsalon, manchmal auch Fitnessstudio, Pool, Gastronomie,
- ein privates Zimmer mit Bett, Schrank, Schreibtisch und Stuhl (ein eigenes Bad ist oft optional),
- Reinigungsservice, Kaffee-Flatrate und natürlich High-Speed Internet-Zugang im gesamten Gebäudekomplex.
Genau genommen müsste man seinen Coliving-Space also nie verlassen. Möglich ist es aber natürlich dennoch.
Die Anfänge
Die Geschichte des Colivings im engeren Sinne könnte nicht nur im selben Jahr, sondern auch am selben Ort wie das Coworking begonnen haben: 2006 in Kalifornien. Als Pendant zur Hat Factory in San Francisco, einem der ersten auch so genannten Coworking-Spaces, gilt die Rainbow Mansion in Cupertino. Fünf NASA-Ingenieure starteten in dieser Villa ein Wohn-Arbeits-Projekt, das heute als Blaupause für Coliving dient. Während es die „Hutfabrik“ schon seit 2010 nicht mehr gibt, ist die Rainbow Mansion auch aktuell noch ein beliebter Ort für Gründer und Kreative. Regelmäßig finden hier Workshops, Hackathons und Pitchings statt.
Die Wurzeln modernen Colivings reichen allerdings noch weiter zurück. Bereits in den frühen 1970er Jahren entstanden in Dänemark sogenannte Cohousing-Projekte, die für das Coliving heutiger Prägung Pate stehen, allen voran die Sættedammen-Community.
Viele Vorteile
Coliving-Spaces bieten viele Vorteile. Zunächst einmal ist es denkbar einfach, dort einzuchecken. Wenn Betreiber und Interessent nach einem Besichtigungstermin kein Problem miteinander haben, kann letzterer bereits mit Laptop und ein paar Kleidungsstücken einziehen. Die Alternative wäre gerade in Großstädten eine qualvolle Wohnungssuche, gefolgt von Umzug und Einrichtung sowie dem Kümmern um Heizung, Strom, Internet, Rundfunkbeitrag usw.
Das vielleicht größte Plus ist die Gemeinschaftlichkeit. Wie im Coworking-Space gibt es zahlreiche Möglichkeiten, neben und mit anderen zu arbeiten. Das kann motivieren und zu Serendipity führen – wenn man auf etwas Nützliches stößt, nach dem man ursprünglich gar nicht gesucht hat. Außerdem werden viele gemeinschaftliche Aktivitäten angeboten: von Workshops und Vorträgen über Yoga bis hin zu Partys. Hier besteht keine Gefahr zu vereinsamen.
Gerade die Einsamkeit ist heute insbesondere für Jobnomaden in anonymen Metropolen ein sehr großes Problem. In Großbritannien wurde aufgrund der immensen gesundheitlichen Folgen von sozialer Isolation Anfang des Jahres sogar eine Ministerin für Einsamkeit ernannt, die diesen Zustand bekämpfen soll.
Nicht zuletzt ist das Konzept Coliving auch ökologisch sinnvoll, denn es spart Raum und Ressourcen. Außerdem entfällt der tägliche Weg zur und von der Arbeit, was darüber hinaus auch Zeit, Geld und Nerven spart.
Welchen Preis hat das?
Beim Coliving lässt sich durchaus Geld sparen. Die Preise reichen je nach Ort und Ausstattung meist von etwa 500 bis 1.200 Euro pro Monat – inklusive aller Nebenkosten und Veranstaltungen. Das Quarters in Berlin-Moabit zum Beispiel ruft ohne eigenes Bad 539 bis 589 Euro auf. Wer ins Kopenhagener Nest möchte, zahlt 4.500 bis 8.000 Kronen (ca. 600 bis 1.150 Euro). Eine Mitgliedschaft im Londoner Old Oak kostet – für Londoner Verhältnisse günstige – 1.000 Pfund (ca. 1.150 Euro). Einen Platz in der New Yorker Wall Street bei WeLive, einem Ableger von WeWork, gibt es allerdings erst ab 3.050 Dollar (ca. 2.500 Euro).
In der Coliving-Idee steckt großes Potenzial. Bis zum vierten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts sollen 70 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben – über 50 Prozent mehr als heute. Coliving könnte eine Antwort sein auf Wohnungsknappheit und Mietwucher in Metropolen. Vor allem für Studenten, die hier ohnehin kaum noch eine Chance auf Wohnraum haben und gern viel unter Menschen sind. Auch für Unternehmen müsste das Thema interessant sein. Denn ein so günstiges Hotel dürften sie für ihre Mobile Worker wohl kaum finden. Investoren jedenfalls lieben Coliving schon jetzt. Allein in London wurde bereits mehr als eine Milliarde Pfund in Coliving-Projekte gesteckt. In Großbritannien macht der Anteil von Coliving-Projekten bereits fünf bis zehn Prozent des 25-Milliarden-Pfund-Mietwohnungsmarktes aus.
Andererseits ist Coliving auch nicht für jeden geeignet: In Coliving-Projekten wird tendenziell ein Work-Life-Blending gelebt, das sich auf Dauer negativ auf das Privatleben auswirken kann. Coliver müssen auch mit häufig wechselnden Bekanntschaften leben, und spätestens zur Familiengründung wird es dann wirklich eng. Hinzu kommen die meist nicht besonders ergonomisch eingerichteten Arbeitsmöglichkeiten.
„Coliving hat aber den großen Vorteil, dass man in fremden Städten schnell Anschluss an Gleichgesinnte findet. Unsere Community-Mitglieder sind generell sehr aktive Menschen, die die meiste Zeit ohnehin nicht zu Hause verbringen. Familienplanung spielt für unsere jungen Mitglieder noch keine große Rolle. Die persönliche Verwirklichung und berufliche Ausrichtung stehen klar im Vordergrund. Coliving ist eher für eine bestimmte Lebensphase gedacht.“, so die Medici Living Group, dem in Bezug auf die Anzahl von angebotenen Zimmern (1.700) weltweit größten Coliving-Anbieter.
In jedem Fall dürften wir von Coliving in Zukunft noch einiges hören.