Der Leistungsdruck auf Arbeitnehmer in der modernen Arbeitswelt ist enorm. So mancher fühlt sich dem nicht gewachsen. Was das für das betriebliche Gesundheitsmanagement bedeutet, erläutert die Publizistin und Wirtschaftspsychologin Dr. Alexandra Hildebrandt.
Wo stehen wir?
Viele Arbeitnehmer sehen die aktuelle Entwicklung mit Sorge, haben Angst vor dem Wegfall ihrer Jobs oder davor, den gestiegenen Anforderungen nicht mehr gewachsen zu sein. Der Digitalverband Bitkom geht davon aus, dass schon in wenigen Jahren jeder zehnte Arbeitsplatz von Robotern besetzt werden kann. Auch wenn niemand Ausmaß und Geschwindigkeit genau einschätzen kann, ist die Verunsicherung groß. Hinzu kommt ein enormer Leistungsdruck, denn überforderte Organisationen überfordern die Individuen: Nur wer etwas leistet und sich zu „verkaufen“ weiß, ist scheinbar etwas wert. Einige Menschen glauben sogar, dass ihr Leben durch Leistung kontrollierbar wird: Wenn sie genug leisten, können sie sich Sicherheit und Glück kaufen. Mit dieser Entwicklung verbunden ist auch ein Anstieg psychischer Erkrankungen, der durch Statistiken der gesetzlichen Krankenversicherungen und durch die steigenden Zahlen zur Frühverrentung durch die Deutsche Rentenversicherung Bund bestätigt wird. Inzwischen steht jeder Fünfte unter Dauerstress, der dazu führt, dass Denken und Fühlen getrennt sind. Aus dem jüngst erschienenen „Psychoreport 2019“ der Deutschen Angestellten-Krankenkasse geht hervor, dass sich die Krankschreibungen aufgrund psychischer Probleme in den vergangenen 20 Jahren mehr als verdreifacht haben. Die Anzahl der gemeldeten Fehltage ist 2018 bundesweit um 2,5 Prozent auf durchschnittlich 15,5 Fehltage pro Erwerbsperson gestiegen (Quelle: TK-Gesundheitsreport 2019).
Das Präventionsgesetz, das seit 2016 gilt, erlaubt es Krankenkassen, die Gesundheit von Angestellten zu unterstützen (gilt nur für die individuelle Förderung einzelner Mitarbeiter). Prof. Dr. Sonia Lippke von der Jacobs University Bremen und PD Dr. Aike Hessel von der Deutschen Rentenversicherung Oldenburg-Bremen haben die Effektivität verschiedener gesundheitsfördernder und präventiver Maßnahmen in Bezug auf die Erwerbsfähigkeit und die körperliche Aktivität untersucht. Dazu wurden die Daten von 4.023 Studienteilnehmern mittleren Alters aus 27 verschiedenen Studien analysiert.
Die wichtigsten Ergebnisse:
- Mitarbeiter individuell bei einer gesünderen Lebensweise zu unterstützen (zum Beispiel durch Sportangebote) ist nachweislich nützlich, allerdings sind unternehmensweite Änderungen der Arbeitsumgebung noch wirksamer (mangelnde Bewegung bei klassischen Bürojobs sollte durch die ergonomische Gestaltung der Arbeitsumgebung und des Arbeitsplatzes reduziert werden).
- Die Gestaltung der Arbeitstätigkeit und der Arbeitsbedingungen sowie betriebliche Rahmenbedingungen sind zentral bei der Gesundheitsförderung.
- Empfohlen werden Workshops zu Zeit- und Selbstmanagement, professionell angeleiteter Pausensport und in den Workflow eingebaute Bewegungseinheiten, die die Motivation der Mitarbeiter fördern.
- Sind Mitarbeiter zufriedener, motivierter und gesünder, dann ist das auch ein wesentlicher Bestandteil für den wirtschaftlich nachhaltigen Erfolg des Unternehmens.
- Strategisches Gesundheitsmanagement ist wesentlich, damit der langfristige Erfolg sichergestellt wird.
BGM muss Bestandteil der strategischen Unternehmensführung sein
Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) hat das Ziel, betriebliche Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass die Mitarbeitergesundheit und Produktivität des einzelnen Menschen sowie des gesamten Unternehmens nachhaltig gestärkt werden. „Gut qualifizierte und gesunde Mitarbeiter sind für die Zukunft Deutschlands und im Kontext des demografischen Wandels elementar für die betriebliche und gesellschaftliche Wertschöpfung“, schreibt der Personalexperte und Unternehmer Werner Neumüller im Buch „CSR und Sportmanagement“. Am Beispiel der Neumüller Unternehmungen, Partner der Industrie im Umfeld der Personal- und Ingenieurdienstleistung, zeigt er hier, dass Vorsorge und ein effizientes nachhaltiges Gesundheitsmanagement wesentlich für die aktive Gestaltung der Gesundheit sind. Im Mittelpunkt steht ein ganzheitlicher Blick auf die Bedürfnisse der Mitarbeiter. Unter dem Namen „Take Care“ werden ihnen Gesundheitsleitungen angeboten. Sie sind nicht nur eingebunden, wenn es um die Auswahl der Bausteine von Fitness- oder Gesundheitsprogrammen geht, sondern benoten auch jede einzelne Maßnahme. Es genügt nach Ansicht des HR-Experten nicht, lediglich Maßnahmen zur Gesunderhaltung zu entwickeln und theoretisch zu vermitteln. Vielmehr müssen Unternehmen in der Belegschaft auch dafür werben und sie fest in der Unternehmenskultur verankern.
Die Japaner legen bekanntlich das höchste Arbeitstempo vor, haben nur eineinhalb Wochen Urlaub im Jahr und sterben mitunter am Karoshi (Tod durch Überarbeiten). Dennoch leiden dort auffallend wenig Menschen an stressbedingten Krankheiten. Der Zeitforscher Robert Levine führt dies zum einen auf ihre traditionell cholesterinarme Ernährung zurück, zum anderen aber auf das in japanischen Unternehmen herrschende Gemeinschaftsgefühl (Europäer und Amerikaner verstehen sich meistens als Individualisten, während die Japaner stärker im Kollektiv aufgehen). Auch dieser Aspekt gehört zum vorausschauenden BGM, wo Aspekte der Mitarbeitergesundheit in die Planung und Durchführung betrieblicher Veränderungsprozesse integriert werden. Die frühzeitige Information und Einbeziehung der Beschäftigten in geplante Neuerungen ist dabei ein weiterer Teil der gesunden Gestaltung von Veränderungsprozessen.
So entstand im Rahmen der kontinuierlichen Verbesserung des Gesundheitsmanagements an die Umfrage zur psychischen Belastung am Arbeitsplatz bei Neumüller anschließend die Idee, den „Feel Good“-Bereich auszubauen. „Wir tun dies im klaren Verständnis des Miteinanders. Eine schlechte Unternehmenskultur und Führung macht Mitarbeiter nachweislich krank“, so Neumüller. Als Führungskraft setzt er sich deshalb auch dafür ein, Kollektivität herzustellen, Mitarbeiter zu motivieren, sich mit anderen zusammenzuschließen und gemeinsam zu überlegen, ob und wie sich Arbeitssituationen entspannen lassen. Denn Menschen sind zuallererst soziale und emotionale Wesen, die eine gleichgesinnte Gemeinschaft für den sozialen Austausch brauchen.
Weiterführende Informationen:
- Thomas Hahn: Bis zum Umfallen. In: Süddeutsche Zeitung (23./24.11.2019), S. 34 f.
- Werner Neumüller: Sport und Gesundheitsmanagement – eine Notwendigkeit in Zeiten des demografischen Wandels. Am Beispiel der Neumüller Unternehmensgruppe. In: CSR und Sportmanagement. Jenseits von Sieg und Niederlage: Sport als gesellschaftliche Aufgabe verstehen und umsetzen. Hg. von Alexandra Hildebrandt. 2. Auflage. Verlag SpringerGabler, Berlin und Heidelberg 2019.
- Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.
Dr. Alexandra Hildebrandt,
Publizistin, Wirtschaftspsychologin und Nachhaltigkeitsexpertin. Twitter: @AHildebrandt70 Foto: Nicole Simon |