Die Krisen der letzten Jahre drücken bei vielen Menschen auf die Stimmung. Mancher flieht vor der Welt in die eigenen vier Wände. Stephan Grünewald, Diplom-Psychologe, Bestsellerautor und Geschäftsführer des renommierten Rheingold Instituts, hat analysiert, wie die meisten von uns derzeit ticken.
Der Stärkung der Bindungskräfte im Beruf kommt eine wachsende strategische Bedeutung zu, denn unsere krisenhafte Zeit hat einen Erosionsprozess in Sachen Loyalität und Mitarbeiter-Bindung beschleunigt. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind in einer komplizierten Stimmungslage. Festgefahren zwischen Klimawandel und Krieg ist ein Großteil der Bevölkerung mit Blick auf Politik und Gesellschaft desillusioniert und reagiert auf die gespürte Aussichtslosigkeit mit einer Flucht ins private Glück. Dies war eine unserer zentralen Erkenntnisse der aktuellen Zuversichts-Studie („Deutschland auf der Flucht vor der Wirklichkeit“), die wir mit der Identity Foundation durchgeführt haben. Die Welt „da draußen“ erscheint den Menschen zunehmend als überkomplex, feindlich und erschöpfend – dies geht einher mit einer resignativen Haltung in Bezug auf die eigenen gesellschaftlichen und nicht selten auch beruflichen Einwirkungsmöglichkeiten.
42 Prozent haben Bindungsdefizite
Eine Kernfrage in Sachen Bindung ist also: Erleben die Mitarbeitenden ihren Arbeitsplatz als Teil der feindlichen Welt „da draußen“? Oder bietet ihnen der Job vielmehr Halt, Orientierung und Sinnhaftigkeit in einer bedrohlichen und psychisch immer anstrengenderen Welt? In der Studie „Kohäsion – Die Bindungskräfte von morgen“, die unser Rheingold Institut gemeinsam mit Pawlik Consultants durchgeführt hat, zeigt, dass sich 58 Prozent der Angestellten absolut oder stark an ihr Unternehmen gebunden fühlen. Im Umkehrschluss sehen wir jedoch, dass dies bei 42 Prozent nicht der Fall ist. Sie fühlen sich nur teilweise, wenig oder gar nicht gebunden. Jeder Achte (12,5 Prozent) empfindet wenig oder gar keine Bindung an seinen Arbeitgeber.
Das Homeoffice nimmt in dieser Gemengelage eine zwiespältige Rolle ein. Natürlich geht es um die Modernisierung der Arbeitswelt, eine Flexibilisierung der Arbeitszeiten, die Vermeidung von Mobilität, schlicht um New Work. Seelisch betrachtet kann das Homeoffice jedoch zu einer weiteren Spielart der allgemeinen Rückzugstendenz in private Gefilde mutieren und zusätzlich den Wunsch befeuern, die unbequeme Welt möglichst im Außen zu lassen.
Wann ist es Rückzug und wann einfach Selbstfürsorge? Viele Menschen haben den verständlichen Wunsch, die Taktung ihres Lebens herunterzufahren und das Hamsterrad abzubremsen. Viele Arbeitnehmer, aber auch Manager oder Selbstständige bekunden derzeit, dass sie weniger arbeiten wollen: mehr Urlaub, die Vier-Tage-Woche, Halbtags-Beschäftigungen, kleine oder größere Sabbaticals und vor allem weniger Überstunden stehen auf der persönlichen Wunschliste. Vor allem jüngere Leute fordern eine neue Work-Life-Balance, die ihnen mehr Raum für Freizeit, Beziehung, Freunde oder Familie lässt.
Meetingmarathons ersetzen informelle Auszeiten
Die Umstellung vieler Prozesse von analog auf remote hat in den vergangenen Jahren vordergründig eine zeitliche Entlastung geschaffen: weniger Pendel-Zeit und Präsenz-Termine bei Kunden, weniger Dienstreisen etc. Die Formel ‚Mehr Effizienz bei weniger Kosten und zeitlicher Entlastung‘ beschreibt allerdings eine digitale Verdichtung. Durch den Wegfall der Reisezeiten, Arbeitsessen, Flurgespräche konnten mehr Meetings, mehr Präsentationen oder mehr Arbeitsprozesse gestemmt werden. Weggefallen sind aber auch die Dehnungsfugen im Alltag, die informelle und unbeschwerte Auszeiten ermöglichen. Reisezeiten, Fahrten ins Büro oder Flurgespräche sind auch Möglichkeiten, zu sich zu kommen, durchzuatmen oder einmal die Perspektive zu wechseln. Die digitale Verdichtung steigert die Produktivität, fördert aber auch subtile Formen der Erschöpfung und forciert langfristig wiederum die Wünsche nach Entschleunigung.
So kann eine schleichende Entfremdung der Beschäftigten vom Unternehmen Schritt für Schritt an Dynamik gewinnen. Nur mehr im privaten Rückzug finden die Menschen Selbstwirksamkeit und Werkstolz im Werkeln, Gärtnern, Wandern, Aufräumen, Kochen oder Puzzeln. Viele Menschen berichteten, dass diese analogen Betätigungsformen ihnen oft mehr Befriedigung vermitteln als die oft abstrakten oder formalisierten Prozesse in der Arbeitswelt. Dadurch verschiebt sich auch die Benchmark in Sachen Werkstolz und damit die Erwartungen an befriedigende bzw. erfüllende Beschäftigungen im Beruf.
Das Homeoffice als beliebter Baustein eines flexiblen „New-Work“-Konzeptes kann so einen Rückzug ins private Schneckenhaus vorantreiben und eine „Entbindung“ vom Arbeitgeber beschleunigen.
Bindungsmangel muss aktiv begegnet werden
Dies ist nicht unbedingt ein Argument gegen das Homeoffice. Der Wunsch, einen Teil seiner Arbeitszeit – falls möglich – vom Homeoffice aus zu gestalten, wird auch in den nächsten Jahren bestehen und Attraktivitätsfaktor eines Unternehmens sein. Doch die Krisenpermanenz führt dazu, dass die von der Politik postulierte „Zeitenwende“ oder der „Epochenbruch“ immer mehr die Alltagswirklichkeit der Menschen bestimmen. Die Zeiten ungebrochener Wachstumshoffnungen und des Zukunftsoptimismus sind vorbei. Statt nach dem Höher, Schneller und Weiter zu streben, versuchen die Menschen, ihr Dasein zumindest zu stabilisieren und sich in einer permanenten Gegenwart zu verbunkern. Gleichzeitig setzt jedoch eine Suche nach einer neuen Sinnausrichtung jenseits der Maximierungskultur ein. Wer Mitarbeitende führt, sollte sich dieses „Big Picture“ bewusst machen.
Durch die mangelnde gemeinsame Unternehmenswirklichkeit drohen die Unternehmensziele und -visionen, aus dem Blick zu geraten. Führung bedeutet daher vor allem, den Spirit und die Mission des Unternehmens sowie den Purpose zu verkörpern und sie buchstäblich vorzuleben. Der partielle Wegfall der gemeinsamen Verortung im Unternehmen führt dazu, dass Führungskräfte viel mehr für den inneren Zusammenhalt und die Bindung jedes einzelnen Mitarbeitenden investieren müssen. Bindung an ein Unternehmen entsteht deutlich leichter, wenn Beschäftigte in ein übergreifendes soziales Gefüge eingebettet, durch ein Wir-Gefühl gehalten und durch ein Beziehungsgeflecht verwurzelt werden. Da die Mitarbeitenden sich nicht mehr automatisch im Gesichtskreis ihrer Vorgesetzten aufhalten, gilt es, aktiv im Kontakt mit ihnen zu bleiben. Unsere Kohäsions-Studie hat gezeigt, dass Bindungsdefizite vielen Arbeitnehmern nicht bewusst sind und daher auch kaum artikuliert werden. Es ist also nie wichtiger gewesen, früh zu erkennen, wie es ihnen geht und was sie brauchen. Sensibilität und Empathie der Führungskräfte gewinnen daher noch mehr an Bedeutung.
Der Artikel basiert auf zwei aktuellen Studien: „Deutschland auf der Flucht vor der Wirklichkeit“ und „Bindungskräfte statt Bindungskiller“.
Stephan Grünewald, Geschäftsführer, |