Die Wissensarbeit steht vor einer tiefgreifenden Transformation. Durch sie wird sich auch die Rolle des Büros grundlegend verändern, ist sich Raphael Gielgen sicher. Der Trendscout von der Designmöbelmarke Vitra teilt in seinem Work Panorama wichtige Impulse für die Zukunft.
Viele meiner Gäste, Zuhörerinnen oder Workshopteilnehmer arbeiten in klaren und geordneten Lebensmustern. Alle Teilnehmenden haben implizite Annahmen und Überzeugungen darüber, wie die Welt funktioniert. Diese werden nun mehr und mehr in Frage gestellt oder lösen sich auf. Ob in den USA, in Europa oder Asien – dieses Phänomen begegnete mir überall. Vor allem die Vorstellungen über den Ort der Arbeit, das Büro, war Gegenstand vieler meiner Gespräche. Das Büro erlebte seine letzte Evolutionsstufe in den 2010er-Jahren. In dieser Zeit entstanden im Silicon Valley die Prototypen einer neuen und gigantischen Arbeitsarchitektur. Die Idee des Supercomputers für physische Interaktionen wurde bis zur Pandemie in weiten Teilen der Welt umgesetzt. Dann kam die Pandemie und nichts mehr war so, wie es mal war.
Die größte Transformation in der Geschichte der Wissensarbeit
Während der Pandemie bin ich auf Dror Poleg gestoßen. Er ist Wirtschaftshistoriker, Autor und Redner. Er beschäftigt sich mit der Zukunft der Arbeit und der Städte. Seine Erkenntnisse werden regelmäßig in der New York Times, dem Wall Street Journal, der Financial Times und anderen internationalen Medien veröffentlicht. Dror Poleg brachte die aktuelle Situation der Wissensarbeit und deren Verortung wie kein anderer auf den Punkt:
„Wir haben die Welt um das Büro herum gebaut. Bürogebäude dominierten unsere Skyline und bestimmten das Zentrum der Städte. Der Arbeitsplatz bestimmte, wo wir wohnten, wie weit wir pendelten und wie viel Zeit wir mit Familie und Freunden verbrachten. Das Büro prägte das Leben selbst derjenigen, die noch zu jung – oder bereits zu alt – waren, um zu arbeiten. In der Kindheit war die Schule eine Vorbereitung auf die Büroroutine. Im Ruhestand wurde die Rente durch vorhersehbare Dividenden aus langfristigen Büromietverträgen gesichert. Das Büro ist mehr als nur ein Ort. Es verkörpert ein Wirtschaftssystem, einen technologischen Entwicklungsstand und einen bestimmten Zeitpunkt. Dieser Zeitpunkt ist vorbei. Büroräume werden nicht verschwinden. Aber wie die Bauernhöfe und Fabriken vor ihnen werden sie ihren Einfluss auf unseren Lebensstil und unsere Umwelt verlieren.“
Ich fasse es mal so zusammen: Die Wissensarbeit steht vor der größten Transformation in ihrer Geschichte. Die Arbeitswelt verändert sich schneller als je zuvor. Tools und Technologien wie Text-Bild-Generatoren, Web 3.0, ChatGPT, Forderungen nach Workation oder Phänomene wie Quiet Quitting sind nur ein Teil dieser treibenden Kräfte einer neuen Arbeitswelt.
Neue technologische und sozioökonomischen Faktoren beeinflussen in naher Zukunft,
- woran wir arbeiten werden,
- wo wir arbeiten werden,
- mit wem wir arbeiten werden,
- mit welchen Tools wir arbeiten werden.
Work Panorama – seit 2015
Nach den vergangenen Pandemiejahren und angesichts des anhaltenden wirtschaftlichen Wandels scheint die Zukunft der Arbeit immer ungewisser zu werden. In unserem Work Panorama teilen wir seit 2015 Erkenntnisse und Signale, stellen Verbindungen her und skizzieren Potenziale einer zukünftigen Arbeitswelt. Diese Art Voraussicht oder „Framing“ ist die Superkraft, die in der aktiven Gestaltung der räumlichen Zukunft den Unterschied macht. So gestalten wir die Zukunft aus der Zukunft und nicht aus der Gegenwart heraus.
Die Themencluster des Work Panorama 2023 gliedern sich in eine vertikale Ebene, auf der architektonisch-technologische Innovationen vorgestellt werden, und eine horizontale Ebene, auf der Einblicke in die großen sozioökonomischen Herausforderungen für die Zukunft der Arbeit gegeben werden. Auf jeder der Ebenen wurden vier thematische Cluster definiert, deren Trends an einigen Stellen miteinander verwoben sind.
Auf der vertikalen Skala betrachten wir die Herausforderungen und Innovationen in den Bereichen Extended Realities, Collaborative Environments, City-as-a-Service und Machine Minds. Diese Themencluster werden auf der horizontalen Skala durch diese sozioökonomischen Perspektiven ergänzt: Talent Squad, Sustainable Leadership, New Cooperativism und Human Needs.
Extended Realities
Die Verbreitung des Metaversums und des Web 3.0, die Popularisierung von NFTs und die Kommerzialisierung von VR- und AR-Hardware haben neue Fragen zu den Potenzialen unserer Arbeitsräume aufgeworfen. Immer mehr Architekturbüros und Softwarefirmen widmen sich der Gestaltung von virtuellen Arbeitsräumen. Virtuelle Räume unterliegen keinen Building Codes oder Normen und verbauen keine Ressourcen. Die Investitionen in Soft- & Hardware sind im Vergleich zu einer Immobilie zu vernachlässigen. Gleichzeitig werden industrielle Fertigungsprozesse, etwa im Rahmen von CAD und Logistik, zunehmend durch VR und AR unterstützt. Die Frage ist nicht mehr, ob sich die Technologien der erweiterten Realität durchsetzen werden, sondern, wie wir sie optimal in unsere Geschäftsprozesse und Arbeitsräume integrieren können.
Kollaborative Umgebungen
Die Transformation der alten Geschäftsmodelle und der Innovationsdruck in den Unternehmen erfordern Interaktion, Kollaboration und den Zufall. Die Unternehmen müssen sich daher die Frage stellen, wie sie physische und virtuelle Arbeitsplätze in einer kollaborativen Umgebung kombinieren können. Neue Remote-Lösungen könnten es ermöglichen, in weltweit verteilten Teams zu arbeiten. Die Arbeit der Zukunft wird nicht mehr in Heim und Büro, global und lokal unterteilt sein, sondern in Netzwerken strukturiert.
City as a Service
Während große Bürogebäude, Logistik- und Rechenzentren lange Zeit vor den Toren der Stadt angesiedelt waren, rücken sie zunehmend in den Mittelpunkt der Stadtplanung und machen die Städte in der Zukunft zu einem großen Eco-System der Arbeit. Unterstützt wird diese Entwicklung durch ständige Innovationen im Bereich der Smarten Stadt, Apps und die fortschreitende Konnektivität der Wissensarbeit. Die Immobilienbranche steht im Zeitalter der Digitalisierung, der rasanten Urbanisierung und der Nachhaltigkeit vor großen Herausforderungen, um ästhetisch ansprechende, gesellschaftlich relevante und wirtschaftlich attraktive Quartiere oder Gebäude zu entwickeln.
Machine Minds
Roboter sind keine Science-Fiction mehr – sie sind unsere Kollegen. In immer mehr beruflichen Tätigkeiten werden wir mit autonomen und lernenden Soft- und Hardware-Technologien konfrontiert. Das Aufkommen immer neuer Innovationen im Bereich der Diffusionsmodelle, der Gesichtserkennung, der Robotik oder der Verarbeitung natürlicher Sprache bringt weitreichende Veränderungen in der Mensch-Maschine-Interaktion an Arbeitsplätzen mit sich. Was in der industriellen Fertigung und im architektonischen Modellbau seit einigen Jahren gang und gäbe ist, hält in immer mehr Arbeitsbereichen Einzug: von der Personalabteilung über Forschung und Entwicklung bis hin zur Führungsebene. Im Zuge der allgemeinen Verbreitung dieser Technologien wird es vor allem auf der Führungsebene immer wichtiger zu verstehen, wie algorithmische Lernsysteme in die menschliche Entscheidungsfindung und die Gestaltung intelligenter Arbeitsbereiche einbezogen werden können.
Talent Squad
Mit einer zunehmenden Work Force, die immer weniger durch einen breiten Lebenslauf, eine Postleitzahl und eine Vielzahl von durchlaufenen Positionen gekennzeichnet ist, gewinnt die Entwicklung von Talenten im Unternehmen immer mehr an Bedeutung. In diesem Prozess wird das Unternehmen zu einer ständig lernenden Universität und einem Thinktank. Dieser neue Anspruch an das Talentmanagement im Unternehmen erfordert von den Führungskräften neue Qualitäten. Sie müssen versuchen, ihren Mitarbeitenden branchenübergreifende Qualifikationen zu vermitteln und gleichzeitig das gemeinsame Vertrauen zu erhalten – ohne ihre Führungsqualitäten aufzugeben. Anstelle von reinem „lebenslangen Lernen“ bedeutet dies aber auch, an einzelnen Talenten zu arbeiten, die bereits im Team sind, oder Beziehungen langsam zu beenden, die für beide Seiten nicht erfolgreich sind.
Sustainable Leadership
Die Klimakrise bleibt eine der größten Herausforderungen unserer Zeit – insbesondere für die Zukunft der Arbeit. Massive Erderwärmung, Rohstoffverknappung und Klimamigration stellen neue Herausforderungen an Führungskräfte. Das Ziel nachhaltiger Führung, um in der Zukunft bestehen zu können, muss sein, wirtschaftlich, sozial und ökologisch nachhaltig, anpassungsfähig und effizient zu handeln. Dies muss bei den Ursachen der Klimakrise beginnen und bei den Folgen des eigenen Handelns enden. Nachhaltige Führung erfordert daher einen umfassenden Überblick über die Zusammenhänge zwischen wirtschaftlichem Handeln und sozialer und ökologischer Realität sowie die Einbeziehung einer wachsenden Zahl von Interessengruppen. Das fängt bei der nachhaltigen Versorgung mit Rohstoffen an und hört bei der Zahlung fairer Löhne auf, um erfolgreich zu sein.
New Cooperativism
Wem gehört die Zukunft der Arbeit? Diskurse über die Ungerechtigkeit von Arbeit führen zu einer Vielzahl von Gewerkschaften und Initiativen, die die Ungerechtigkeit innerhalb (globaler) Arbeitsmodelle kritisieren und Alternativen vorstellen. Während neue digitale Arbeitsmodelle wie Plattform- oder Klickarbeit lange Zeit ohne Arbeitnehmerbeteiligung auskamen, entsteht gerade in diesem Bereich eine neue Form der gewerkschaftlichen Organisierung, die weltweit immer mehr Arbeitsbereiche inspiriert. Die Modelle dieser Plattformgewerkschaften lassen neue Vorstellungen von genossenschaftlich organisierten Geschäftsmodellen und Arbeitsräumen entstehen. Diese Modelle sind der Schlüssel zu einer Zukunft der Arbeit, die von Teilhabe und Wohlstand geprägt ist und nicht von Hierarchien, globalen Spaltungen und Ungerechtigkeiten. Nur mit gemeinsamer Beteiligung, Arbeitsgerechtigkeit und Solidarität können wir die globalen Herausforderungen der Zukunft meistern.
Human Needs
Die eigene Lebensqualität wird immer wichtiger für unsere Einstellung zur Arbeit. Während zunehmend über Start-up-Mentalität, Entrepreneurial Mindset und Self-fulfillment at Work diskutiert wird, rücken die eigene Lebensqualität und Lebenserhaltung wieder stärker in den Mittelpunkt der Diskussion um ein positives Arbeitsumfeld. Unternehmen müssen sich daher fragen, wie sie finanzielle und soziale Anreize schaffen können, damit sich ihre Mitarbeitenden wieder mehr verbunden fühlen und eine höhere Lebensqualität genießen können. Wie kann der Urlaub in den Arbeitsalltag integriert werden, zum Beispiel durch Workation? Wie können Unternehmen Mitarbeitende unterstützen, die neben ihrer Arbeit für das Unternehmen auch Pflegearbeit leisten müssen? Unternehmen müssen lernen, ihre Mitarbeitenden mehr als Individuen und weniger als Corporate Personas zu sehen.
Wie geht es weiter? Die vergangenen drei Jahre waren für uns alle außergewöhnlich und was sich abzeichnet, ist mehr als nur der Verlauf eines weiteren Wirtschaftszyklus. Die großen Volkswirtschaften stehen vor einem neuen Zeitalter, einer neuen Epoche der Wirtschaft. Es dauert nur noch Monate, bis eine neue Technologie alle Orte dieser Welt erreicht und das verändert alles. Der gegenwärtige Blickwinkel auf die Zukunft oder auf Deutschland mag zu Pessimismus verleiten. Wenn wir aber mal zurück in die Wirtschaftsgeschichte Deutschlands blicken, dann war diese Historie immer eine Erzählung des Fortschritts. Jetzt ist ein guter Zeitpunkt, die Zukunft zu erfinden und nicht die Gegenwart zu optimieren. Dies gilt auch für das Büro.