Wertschätzende Führung ist kein „Nice-to-have“, sie ist ein entscheidender Erfolgsfaktor für die Führungsarbeit. Im Interview erläutern Ulla Nappi, Systemische Beraterin bei „Professionals in Project“, und Erich Peter Hoepfner, Geschäftsführender Gesellschafter der Munich Consult GmbH, die Gründe dafür.

Im Interview: Ulla Nappi, Systemische Beraterin bei Professionals in Project, und Erich Peter Hoepfner, Geschäftsführender Gesellschafter bei Munich Consult. Abbildung: Matthias Lotz
OFFICE ROXX: Frau Nappi, wertschätzende Führung ist heute kein „Nice-to-have“ mehr, sondern ein entscheidender Erfolgsfaktor. Warum ist das so?
Ulla Nappi (UN): Wir erleben derzeit vielleicht die größte Transformation in unserer Arbeitswelt. Globale Handelsstrukturen, Märkte, Unternehmen und unsere gesellschaftliche Grundordnung befinden sich in einem teilweise radikalen Umbruch. Dazu kommt eine politische Instabilität in weiten Teilen der Welt, die für zunehmende Ungewissheit sorgt. Dieser Wandel braucht Vertrauen und Vertrauen braucht Wertschätzung. Denn Wertschätzung steigert die Motivation und schafft Verbundenheit in einer zunehmend distanzierten Arbeitswelt, stärkt die Unternehmenskultur und fördert eine resiliente, leistungsfähige Organisation.
Wie zeigt sich diese Veränderung und wie lässt sich die Transformation steuern?
UN: Wir erleben eine Arbeitswelt, in der Mitarbeitende weit mehr erwarten als nur einen sicheren Arbeitsplatz. Sie suchen Sinn, Zugehörigkeit, Entwicklungsmöglichkeiten – und vor allem Wertschätzung. Sie wollen sich einbringen können, als ein Teil des Ganzen verstanden werden. Gerade die junge Generation – Millennials und Gen Z – legt großen Wert auf emotionale Intelligenz, Feedback und persönliche Anerkennung. Sie wollen in einer Kultur arbeiten, in der respektvoller Umgang und echtes Zuhören nicht als Aufgabe, sondern als Haltung verstanden werden.
Gleichzeitig verändern Remote Work, Homeoffice und virtuelle Teams die Art unserer Zusammenarbeit. Viele kleine Gesten der Anerkennung – ein spontanes Dankeschön, ein Schulterklopfen auf dem Flur – fallen schlicht weg. Dadurch wächst die Gefahr von Distanz und Anonymität. Deshalb muss Wertschätzung heute bewusster, gezielter und konsequenter gelebt werden. Sie ist kein „Nice-to-have“ oder Kuschelkurs, sondern die Voraussetzung für Vertrauen, Verbundenheit und eine widerstandsfähige Unternehmenskultur. Ihre größte Wirkung entfaltet sie dann, wenn sie nicht als Methode verstanden wird, sondern als innere Haltung.
Herr Hoepfner, was bedeutet das für die Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft?
Erich Peter Hoepfner (EH): Unsere Erfahrung in über 30 Jahren systemischer Arbeit mit und in Unternehmen sowie einige Studien renommierter Forschungsunternehmen wie Gallup zeigen, dass Anerkennung von Leistung sowie die damit verbundene Wertschätzung stärker wirken als finanzielle Anreize. Wer sich gesehen und ernst genommen fühlt, ist motivierter, engagierter und offen für Neues. Zudem beobachten wir einen immer lauter artikulierten Wunsch nach „psychologischer Sicherheit“ und einer damit gewünschten „Verbundenheit“. Viele Mitarbeitende erbringen ihre beste Leistung nicht allein aus Pflichtgefühl. Entscheidend ist, ob sie sich einbringen sollen und dürfen, respektiert und als wertvoller Teil im Unternehmen gesehen werden.
Leistungsfähigkeit – die Bereitschaft, Leistung erbringen zu wollen – entsteht dann, wenn Menschen ihre Energie nicht in Sicherheitsbedenken, Schutz, Misstrauen oder innere Kündigung investieren müssen, sondern nach aufgabenbezogenen Lösungswegen mit Kreativität und Entscheidungskompetenz suchen können. Leistungsbereitschaft – Motivation – steigt, wenn Mitarbeitende spüren: „Ich bin auf ‚Augenhöhe‘, mein Beitrag zählt. Ich werde wahrgenommen.“ Wertschätzung wirkt hier wie ein Katalysator – sie setzt Potenziale frei, die sonst verborgen bleiben. Wertschätzung ist also kein „weiches Extra“, sondern eine Bedingung für Höchstleistung. Sie steigert Motivation, fördert Eigeninitiative und macht Organisationen resilient gegenüber den wachsenden Anforderungen einer zunehmend komplexen und dynamischen Arbeitswelt.
Inwiefern ist Wertschätzung gerade von Führungskräften hilfreich?
EH: Mitarbeitende erleben Wertschätzung vor allem im direkten Umfeld. Dabei spielt die direkte Führungskraft eine zentrale Rolle. Studien zeigen: Die Beziehung zur Führungskraft ist einer der wichtigsten Faktoren für Motivation, Bindung und Leistungsbereitschaft. Dies erfordert zunächst einmal Klarheit und Orientierung für die Führungskräfte selbst. Nur wer sich selbst „stabil“ erlebt, kann Vertrauen und Sicherheit geben. Mitarbeitende fühlen sich sicher, wenn sie wissen, was von ihnen erwartet wird.
- Von oben wirkt es stärker. Wenn Wertschätzung von der Führungskraft kommt, signalisiert sie: „Dein Beitrag hat Bedeutung für das Ganze.“ Dies wirkt anders als ein kollegiales Lob, da es sich um Anerkennung in einem hierarchischen Kontext handelt.
- Thema Orientierung und Vertrauen: Führungskräfte sind Taktgeber. Ihre Haltung entscheidet darüber, ob ein Klima von Misstrauen oder Vertrauen entsteht.
- Der Multiplikator-Effekt: Wertschätzendes Verhalten von Führungskräften prägt die Kultur – es wirkt wie ein Modell, das Mitarbeitende übernehmen und weitertragen.
Gerade von Führungskräften ist Wertschätzung deshalb ein entscheidender Hebel: Sie steigert die Leistungs- und Lernbereitschaft unmittelbar, schafft Vertrauen im Team und wirkt langfristig kulturprägend.
Wie gelingt es dann, wertschätzend im Alltag zu führen?
UN: Das ist eine sehr gute Frage! Zuerst braucht es die innere Stabilität der Führungskraft – und das Vertrauen in die eigene Selbstwirksamkeit. Genau deshalb haben wir den Seminarbaustein „Wertschätzend empathisch mit Empowerment führen“ entwickelt. Wir möchten damit Führungskräfte einladen, frei, ungezwungen, ohne Wertung reflektieren und lernen zu können. Wertschätzende Führung im Alltag gelingt, wenn Führungskräfte bewusst handeln:
- Das Team versammeln – Orientierung geben, emotional zuhören und verstehen, gemeinsame Ziele formulieren und Sinn stiften.
- Wirksamkeit sichtbar machen – Erfolge und Fortschritte regelmäßig anerkennen und transparent machen. Mit und aus dem Herzen heraus „loben“ – den Einzelnen wie auch das Team wachsen lassen.
- Mit gutem Beispiel vorangehen – Feedback geben, zuhören, Vereinbarungen einhalten.
- Unvollkommenheit zulassen – eigene Fehler zugeben, Fragen stellen, Mut zur Offenheit zeigen.
- Unsicherheit aushalten – Entscheidungen nach bestem Wissen treffen, auch wenn nicht alle Informationen vorliegen.
In der Verantwortung zu stehen ist herausfordernd: Informationen ändern sich ständig, Rahmenbedingungen sind oft unklar. Gerade deshalb braucht es Führungskräfte, die Vertrauen schaffen, Orientierung geben und in der täglichen Zusammenarbeit die kleinen Gesten der Wertschätzung bewusst einsetzen. Wertschätzende Führung ist kein „Extra“, sondern der wirksamste Hebel, um Motivation, Leistungsbereitschaft und Resilienz im Team zu stärken.
Was ist noch zu beachten?
EH: Ein wiederkehrendes Feedback lautet: Führungskräfte sind oft zu oberflächlich. Mitarbeitende verstehen ihre Aufgaben nicht klar, Erwartungen bleiben unausgesprochen – die Folge sind Unzufriedenheit, Missverständnisse und letztlich Leistungsdefizite. Was ist dabei zu beachten? Zuerst braucht es eine bewusste, innere Haltung. Bevor reagiert wird, gilt es, innezuhalten – „Stopp“ zu sagen, tief Luft zu holen und präsent zu sein. Denn echtes, empathisches Zuhören erfordert, sich zurückzunehmen: nicht sofort zu bewerten, nicht zu unterbrechen, sondern Raum zu geben.
Wertschätzende Führung bedeutet, gezielt nachzufragen – auch auf der emotionalen Ebene. So werden unausgesprochene Erwartungen sichtbar, Missverständnisse geklärt und Meinungsvielfalt nutzbar gemacht. Führungskräfte schaffen damit einen Resonanzraum, in dem Mitarbeitende sich verstanden fühlen und Klarheit über die gemeinsame Ausrichtung entsteht. Um dies zu verstetigen, helfen klare Strukturen: regelmäßige Teamgespräche, Feedbackregeln, zirkulierende Dialogformate. Sie fördern Transparenz, geben Orientierung und schaffen die psychologische Sicherheit, die notwendig ist, damit Menschen sich öffnen und engagiert einbringen können.
Kurz gesagt: Wertschätzende Führung gelingt nicht durch Reden, sondern durch Zuhören, Verstehen und Klarheit. Wer Erwartungen konkretisiert und Meinungsvielfalt zulässt, legt die Basis für Vertrauen, Motivation und nachhaltige Leistungsfähigkeit.
Worin liegt der Nutzen für Unternehmen bzw. Führungskräfte und Mitarbeitende?
UN: Wertschätzende Führung ist ein Gewinn auf allen Ebenen: Das Unternehmen profitiert von Leistung und Stabilität, die Führungskraft von Klarheit und Entlastung sowie die Mitarbeitenden von Motivation, Sicherheit und echter Anerkennung. Allgemein gilt: Der Nutzen wertschätzender Führung für Unternehmen bzw. Führungskräfte und Mitarbeitende ist vielschichtig, tiefgreifend und unmittelbar spürbar – sowohl emotional, als auch insbesondere in Bezug auf Leistung, Gesundheit und Entwicklung. Er zeigt sich in:
- erhöhtem Wohlbefinden und gesteigerter Motivation: Mitarbeitende, die sich gesehen, gehört und respektiert fühlen, gehen lieber zur Arbeit und erleben mehr Sinn in dem, was sie tun. Wertschätzung aktiviert das Belohnungssystem im Gehirn – das steigert Motivation und Engagement. Ein Beispiel: „Mein Beitrag zählt hier wirklich – das gibt mir Energie.“
- mehr Vertrauen und psychologischer Sicherheit: Wer wertschätzend geführt wird, traut sich mehr: Fragen stellen, Kritik äußern, neue Ideen einbringen, Fehler zugeben. Das stärkt den Teamzusammenhalt und macht Mitarbeitende mutiger und lösungsorientierter. Ein Beispiel: „Ich muss hier keine Maske aufsetzen – ich kann ich selbst sein.“
- Klarheit und Orientierung: Wertschätzende Führung beinhaltet klare Kommunikation, konstruktives Feedback und echte Dialoge. Mitarbeitende wissen, wo sie stehen, was erwartet wird und wo sie sich entwickeln können. Ein Beispiel: „Ich bekomme ehrliches Feedback – und weiß, woran ich arbeiten kann.“
- persönlicher Entwicklung und beruflichem Wachstum: In einem wertschätzenden Umfeld werden Talente erkannt und gefördert. Mitarbeitende erhalten Möglichkeiten zur Weiterentwicklung, weil Führungskräfte an sie glauben. Ein Beispiel: „Meine Stärken werden gesehen – ich darf mehr Verantwortung übernehmen.“
- gesunden Beziehungen und Teamkultur: Wertschätzende Führung wirkt wie ein sozialer Klebstoff: Sie fördert Respekt, Vertrauen und Miteinander. Konflikte werden konstruktiver gelöst, die Stimmung im Team verbessert sich. Ein Beispiel: „Wir arbeiten als echtes Team – nicht gegeneinander.“
- weniger Stress und mehr Resilienz: Ein respektvoller Umgang, ehrliche Anerkennung und echtes Interesse reduzieren psychischen Druck. Mitarbeitende in einem wertschätzenden Umfeld brennen weniger aus und bleiben langfristig gesünder. Ein Beispiel: „Ich fühle mich nicht ständig unter Beobachtung – ich kann durchatmen.“
Die Vorteile für das Unternehmen zeigen sich in:
- höherer Leistungsfähigkeit und Lernbereitschaft, Aufgaben bzw. Probleme lösungsorientiert, flexibel und kreativ anzugehen. Dadurch entstehen Wettbewerbsvorteile.
- Zufriedenheit und gesteigertem Wohlbefinden. Eine geringere Fluktuation und weniger Krankheitstagen erhöhen die Produktivität, ermöglichen Kostenvorteile und schaffen größere Spielräume.
- einer starken Unternehmenskultur, die Kreativität und Innovation fördert, die Attraktivität als Arbeitgeber erhöht und Stabilität in unsicheren Märkten schafft.
Was braucht es dafür an Methoden, und wie zeigt sich das auf Mitarbeiterebene?
EH: Methoden und Werkzeuge entfalten ihre Wirkung nur, wenn sie aus der richtigen Haltung heraus angewendet werden. Mitarbeitende spüren sofort, ob Wertschätzung authentisch gemeint oder als bloßes Mittel eingesetzt wird. Echte Wertschätzung entsteht nur, wenn Führungskräfte innerlich überzeugt sind und diese Haltung in jeder Handlung sichtbar machen. Wertschätzende Führung gelingt durch die Bewusstheit, dass wir kein „Selbstverständlichkeitsdenken“ manifestieren, sondern mit Achtsamkeit und Respekt unsere Situation betrachten.
Hilfreiche Methoden und Werkzeuge sind unter anderem: regelmäßige Feedbackgespräche, klare Ziel- und Rollenvereinbarungen, Teamdialoge, aktives, emotionales Zuhören, alltägliche, kleine „Gesten“ der Anerkennung und eine offene Fehlerkultur. Diese Maßnahmen schaffen Klarheit, fördern Motivation und Engagement, stärken Vertrauen – geben somit psychologische Sicherheit und ermöglichen Mitarbeitenden, eigenverantwortlich, mit Freude kreativ zu arbeiten.
Wie lässt sich wertschätzende Führung messbar und der Erfolg sichtbar machen?
EH: Wertschätzende Führung ist oft „unsichtbar“, weil sie sich in Haltung, Verhalten und kleinen Gesten zeigt. Ohne messbare Anzeichen bleibt unklar, ob die Maßnahmen tatsächlich Wirkung entfalten. Verschiedene Indikatoren wie Mitarbeiterzufriedenheit, Engagement, Zielerreichung, Fluktuation oder Teamkultur lassen eine wertschätzende Führung „sichtbar“ werden. Diese Kennzahlen geben Aufschluss darüber, ob Wertschätzung im Alltag tatsächlich Wirkung entfaltet. Sie helfen Führungskräften zu erkennen, wo sie nachsteuern oder Unterstützung bieten müssen.
Gleichzeitig beginnt die Wirkung wertschätzender Führung immer bei der Führungskraft selbst. Ihre innere Haltung, ihre Authentizität, die Fähigkeit zur Selbstreflexion sind entscheidend. Sie prägen Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft. Ohne echtes Bewusstsein für die eigene Wirkung, ohne Selbstvertrauen und Bereitschaft zur persönlichen Weiterentwicklung, können Methoden und Kennzahlen nur begrenzt wirken. Wertschätzung, die nicht glaubwürdig gelebt wird, wird von Mitarbeitenden sofort als manipulativ wahrgenommen.
Wie lautet also das Fazit?
UN: Wertschätzende Führung macht den entscheidenden Unterschied zwischen „Ich muss“ und „Ich will“. Sie schafft ein Umfeld, in dem Menschen nicht nur ihre Aufgaben erfüllen, sondern sich entfalten, Verantwortung übernehmen und ihr Potenzial voll einbringen können.
EH: Indem Führungskräfte authentisch Wertschätzung leben, Vertrauen aufbauen und klare Orientierung geben, wird Motivation greifbar, Engagement nachhaltig und Kreativität freigesetzt. Auf diese Weise sichert wertschätzende Führung nicht nur die Leistungsfähigkeit Einzelner, sondern den langfristigen Erfolg des gesamten Unternehmens.