Wie können wir in Zukunft arbeiten, um den Herausforderungen in der Arbeitswelt gewachsen zu sein? Eine Antwort auf diese oft gestellte Frage lautet: Transformation mittels New Work. Wie Organisationen dabei vorgehen können, beschreibt Mareike Verdicchio.
Die Idee von New Work wird Frithjof Bergmann* zugeschrieben. Das heutige Verständnis von New Work hat jedoch kaum noch mit seiner ursprünglichen Sozialutopie zu tun. Im Kern ging es ihm darum, den Menschen zu befähigen, herauszufinden, was er „wirklich, wirklich“ tun möchte und wie dies der Menschheit helfen könnte, größeren Herausforderungen zu begegnen. Seine Ideen stammen aus den 1980er-Jahren. 2004 schrieb er sie strukturiert in der Form nieder, die die Grundlagen für unser heutiges Verständnis von New Work darstellen, das unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem allerdings mehr nicht infrage stellt. Carsten C. Schermuly* formuliert dies als „die roten Socken ausziehen“.
Der theoretische Unterbau
Frederic Laloux* beschreibt zehn Jahre später (2014) die Entwicklung von Organisationen und zeigt einen möglichen nächsten Schritt dieser Entwicklung auf: die integrale evolutionäre Organisation. Auch er tastet das Gesamtsystem nicht an, sondern bleibt bei den Möglichkeiten, die Organisation und Mensch im vorhandenen System haben. Viele Methodiken, die heute für Transformationen verwendet werden und von einer Heerschar Berater, Trainer und Coaches intensiv beackert und verkauft werden, finden sich hier in Reinform wieder.
Ein weiteres Jahrzehnt später ist Corona überwunden, der Krieg in der Ukraine und Israel dauert an, die KI hält Einzug und die Babyboomer gehen in Rente. Die Arbeitswelt ist bereit und gezwungen, sich neuen Methoden und Ideen zu öffnen. Der Markt wird überschwemmt mit Begrifflichkeiten, die alle irgendwie New Work sind.
Dass es sich bei „New Work“ um einen Container-Begriff handelt, ist Konsens. Im Container lagert ein umfassender, zuweilen auch fragwürdiger Schatz, bestehend aus Ideen, Sichtweisen, Modellen und vor allem Methoden, die wiederum gern in Wirkfelder, Dimensionen, Thesen oder Prinzipien gegliedert sind. Zu allem finden sich jeweils wenigstens 17 Bücher und 1.859 Linkedin-Posts.
Wer weiter herunterbricht, landet schnell bei den Themen Führung, Kommunikation, Prozesse, Strukturen, Macht, Kontrolle, Verantwortung, Empowerment, Selbstorganisation, Diversität. Es fallen Stichworte wie Mut, Offenheit, Vertrauen, Akzeptanz, Loslassen, Dankbarkeit, Geduld. Und selbstverständlich ist alles nachhaltig. Einen ganzheitlichen Ansatz muss sich jede Organisation individuell zusammenstellen. Es gibt keine allgemeingültigen Blaupausen. Das ist zugleich Kern, Segen und Fluch von New Work.
Die Organisation, die veränderungswillig ist, kann sich weitere Inspirationen und Fachwissen holen. Nicht nur über Bücher, auch andere Medien. Linkedin-Voices, Netzwerktreffen, Praxisbeispiele und Institutionen bieten eine Fülle an Informationen. Doch wie können diese allgemeinen Theorien, Meinungen und Ideen auf die eigene Organisation angewandt werden? Wie startet die praktische Transformation? Ich appelliere an den menschlichen Verstand und seine kreative Tatkraft. Selber denken! Ausprobieren! Machen! Jetzt! Denn: „Noch nie hat jemand Klavier spielen gelernt, indem er ein Buch darüber las.“ (Edel Maex*). Die Praxis kann nur aus den Menschen herauskommen.
Was tut der Mensch?
Er erklärt sich bereit, diese drei Aspekte zu lernen: Vertrauen, Erfüllung, Begleitung.
Vertrauen in sich selbst, in andere, in das große Ganze. Das bedeutet, offen zu sein für Neues, Altes und vor allem für den Menschen und seine Eigenschaften, Meinungen und Ideen. Es bedeutet, hinzusehen und stehen lassen oder den nächsten Schritt gehen zu können. Es bedeutet, ins Akzeptieren und Handeln kommen zu können. Wer handelt, kann erfahren. Wer erfährt, kann lernen.
Erfüllung als eine Art Ausgeglichenheit zwischen allem, was da ist, zwischen allem, was getan wird. Wer sich erfüllt fühlt, wie er ist und von dem, was er tut, kann auch die Dinge und Umstände zulassen, die notwendigerweise getan oder akzeptiert werden müssen. Dabei verändern sich Bewertungen. Wer Bewertungen loslassen oder auch einfach stehen lassen kann, erlebt eine neue Form von Freiheit. Wer frei ist, erfährt weniger Begrenzung und kann die Dinge neu denken.
Begleitung bedeutet nicht, die Verantwortung oder Anstrengung für jemanden oder etwas zu übernehmen. Begleitung findet nebeneinander statt. Sie bedeutet, da zu sein. Sie kann als Spiegel fungieren oder als weißes Blatt. Sie wahrt die Grenzen. Sie hört zu, wenn es Zeit zum Zuhören ist, und sie spricht, wenn es Zeit zum Sprechen ist. Wer begleitet wird, erfährt Vertrauen und Großzügigkeit. Wer begleitet, erfährt Vertrauen und Dankbarkeit.
Alle drei Aspekte fließen ineinander und finden nebeneinander statt. Sie dürfen als grobe Orientierung für die (eigenen) Potenziale des Menschen dienen.
Was tut die Organisation?
Wenn Menschen beginnen wahrzunehmen, welche Potenziale in ihnen stecken, benötigen sie einen Rahmen, der ihnen Wege zum Erfahren und Ausprobieren öffnet, gleichzeitig Sicherheit und Stabilität schafft und nicht allein lässt. Es sollte Ausgewogenheit zwischen Freiheit und Verantwortung entstehen. Und mit dieser Ausgewogenheit können dann New-Work-Maßnahmen für die Organisation entwickelt werden. Ein simpler Ansatz dafür ist, Räume zur Verfügung zu stellen. Zum Beispiel:
- Raum der Stille. Dieser Raum ist nüchtern, aber warm gestaltet. Es gibt keine auditiven oder visuellen Reize. Ein Raum der Stille ermöglicht zunächst eine Auseinandersetzung mit sich selbst. Was ist da eigentlich alles in mir? Das könnte eine Fragestellung sein, mit der sich ein Beteiligter in diesen Raum begibt. Den Raum zu haben, sich selbst kennenzulernen und zu reflektieren, führt zu Vertrauen in sich selbst. Wer den Raum mit mehreren Menschen gleichzeitig nutzt, lernt das Vertrauen in andere und erfährt Sicherheit. Sowohl durch die räumliche Umgebung als auch die akzeptierten und eingehaltenen Spielregeln.
- Raum zum Ausprobieren. Und zwar mit den Händen. Menschen lernen über ihre Sinne und die damit verbundenen Erfahrungen. Sie haben Ideen im Kopf oder Gefühle im Herzen. Um dem Ausdruck verleihen zu können, stehen hier Materialien zur Verfügung. Als Orientierung für die Vielfalt können ergotherapeutische Mittel dienen. Um einige Beispiele zu nennen: Spiele, Papeterie, Holzbearbeitung, Textilien, Bibliothek. Das Arbeiten mit Werkstoffen fördert insbesondere das Wahrnehmen der Selbstwirksamkeit. Hier können Probleme formuliert werden, die kreative und innovative Lösungen erfordern.
- Raum für Kommunikation. Es gibt vielleicht einen größeren Bereich, wo sich mehr Menschen gleichzeitig austauschen können, aber vor allem auch kleinere Bereiche, die dem Rückzug von zwei oder drei Personen dienen. Der kreativen Gestaltung ist keine Grenze gesetzt. Hier gibt es die Möglichkeit, in den Austausch zu kommen, entweder mit einer ganz konkreten Frage oder aber durch Inspirationen, die sich im Raum befinden. Dies können zum Beispiel Exponate von Beteiligten sein, die Vorstellung von Projekten persönlicher oder organisationaler Natur, eine Bibliothek oder eine Kategorie „Was machst du gerade?“ Vor allem werden hier die Ideen oder Ergebnisse aus allen drei Räumen veröffentlicht, sofern dies von den Urhebern erwünscht ist.
Für alle Räume gilt: Hier treffen Menschen aufeinander, es gibt keine Rollen und keine Hierarchien. Jeder Raum wird seiner Funktion gemäß genutzt. Es findet informelle Begegnung statt und damit auch Begleitung. Diese geschieht auf Augenhöhe.
Die Räume können und sollen von allen Beteiligten genutzt werden. Vielleicht gibt es eine Vereinbarung, die besagt, dass pro Woche zweieinhalb Stunden im Rahmen der offiziellen Arbeitszeit hier verbracht werden. Für jeden Raum können Fragestellungen formuliert werden, die sowohl dem Menschen als auch der Organisation dienlich sein können, um New-Work-Maßnahmen oder Tagesgeschäftsfragen zu besprechen und umzusetzen. Dies ist als Einladung zu verstehen, nicht als Anweisung. Das fördert die Selbstorganisation und die Selbstführung. Das Gemeinschaftsgefühl wird gestärkt. Auch Shareholder sind herzlich eingeladen, sich zu beteiligen.
Die Gestaltung dieser Räume sollte partizipativ sein, sobald die Unternehmensleitung sich dafür entschieden hat, und die Betreuung der Räume durch eine volle Stelle besetzt sein. Alle paar Wochen können veröffentlichte Ergebnisse zusammengefasst außerhalb der Räume vorgestellt werden.
Im Idealfall entsteht schon durch die Stärkung der drei Aspekte organisches Wachstum, sodass die Organisation den Menschen und die dazugehörige Arbeitswelt aus sich selbst herauswachsen und gedeihen lässt. Im Worst Case sind ein paar Kröten verloren. Realistisch betrachtet können hier Ideen und Problemlösungen im Anfangsstadium kreiert und immer wieder überprüft werden. Am ehesten trifft es die Bezeichnung Entwicklungs- und Lernabteilung. Sowohl Entwicklung der Beteiligten als auch der Organisation und der Arbeitswelt.
Ist das dann jetzt New Work?
Nein. Es ist vielmehr das Erschaffen einer (physischen) Basis, um New-Work-Maßnahmen und -Konzepte zu entwickeln, die auf die eigene Organisation zugeschnitten sind. Sie fördert Handlung und (kritisches) Denken und damit auch Innovation und Transformation. Es kann in kleinen Schritten vorgegangen werden und sukzessive Erweiterungen geben. Die Kosten sind überschaubar. Die wichtigsten Komponenten in dieser Idee sind: Selbst denken! Machen! Jetzt! Gemeinsam!
Mareike Verdicchio, |